Die Anlaufschwierigkeiten bei der COVID-19-Impfung wird Europa überwinden. Doch die Langzeitperspektive ist unklar. Muss die Impfung ständig angepasst werden, weil Escape-Mutationen das Ruder übernehmen?
Der heilige Gral der Corona-Bekämpfung ist die Ausrottung des SARS-CoV-2-Virus. Das ist in der Theorie einigermaßen unstrittig. Doch ob das in Regionen wie Europa, in denen das Virus quasi flächendeckend verbreitet ist, kurz- oder auch nur mittelfristig überhaupt gelingen kann, ist eine andere Frage. Was, wenn nicht?
Die letzten Wochen haben einen ersten Einblick gegeben, wie ein „Leben mit Corona“ aussehen könnte. Früher oder später treten neue Virusvarianten auf, deren klinische Eigenschaften sich von denen des Ursprungsvirus unterscheiden können. Die in Großbritannien sich ausbreitende Virusvariante B117 ist darauf vielleicht nur ein erster Vorgeschmack. Längst wurde B117 in vielen anderen Ländern nachgewiesen. In Dänemark, wo sehr viel besser sequenziert wird als in Deutschland, stieg der B117-Anteil unter den sequenzierten Genomen innerhalb von zwei Wochen von 0,5 % in Kalenderwoche 50 auf fast 2,5 % in der Kalenderwoche 52, in einigen Regionen waren es noch mehr.
Die B117-Variante ist (wahrscheinlich) um rund die Hälfte infektiöser als die bisher dominierenden Virusvarianten. Abschließend bewiesen ist das noch nicht, aber immer mehr Experten gehen davon aus, dass das der Fall ist. Dabei steigt die Infektiosität (erneut wahrscheinlich) in allen Altersstufen gleichmäßig an, aber auch darüber gibt es noch Diskussionen. B117 scheint in jedem Fall nicht zu schwereren Erkrankungen zu führen. Und die Impfstoffhersteller sind sehr optimistisch, dass die Mutationen in der neuen Virusvariante die Wirksamkeit der aktuellen Impfstoffe nicht beeinträchtigen. Auch das ist aber alles noch Gegenstand laufender Forschung.
Die Virusvariante B117 ist leider nicht das einzige Problemkind der evolutionären Corona-Virologie. In Südafrika und in Brasilien sind Varianten aufgetaucht, die eine Mutation namens E484K tragen. Wissenschaftler aus dem Labor von Jesse Bloom vom Fred Hutchinson Cancer Research Center der Universität Washington haben sich jetzt diese und viele andere Mutationen in der Rezeptorbindungsdomäne (RBD) des Spike-Proteins von SARS-CoV-2 genauer angesehen.
Die RBD ist jener Bereich des Spike-Proteins, mit dem das Virus an die ACE2-Rezeptoren der Zielzellen andockt. Gleichzeitig ist es jener Bereich, der derzeit das Hauptziel neutralisierender Antikörper im Serum ist. Bloom und Kollegen betonen, dass spezifische Escape-Mutationen, die dazu führen, dass monoklonale Antikörper gegen bestimmte Bereiche des Spike-Proteins nicht mehr wirken, für SARS-CoV-2 – wie für andere Coronaviren – schon vielfach beschrieben worden seien. Eine andere Frage sei, ob das auch für Antikörper-Cocktails gelte, die „polyklonal“, also gegen unterschiedliche Antigene des Spike-Proteins gerichtet sind. Das ist typischerweise bei den Blutseren von Menschen der Fall, die eine SARS-CoV-2-Infektion durchgemacht haben. Diese Rekonvaleszentenseren werden teilweise zur Behandlung von schwer kranken COVID-19-Patienten genutzt.
Die Frage, wie sich Spike-Protein-Mutationen auf die neutralisierende Effektivität von polyklonalen Seren auswirken, ist deswegen interessant, weil dieses Szenario näher an der Wirklichkeit von Impfstoffen ist als Daten und Experimente zu monoklonalen Antikörpern. Denn die Impfungen induzieren eben keine „monoklonale“ Antikörperantwort, sondern komplexere, vieldimensionalere Immunreaktionen.
Vor diesem Hintergrund ist das, was Bloom und Kollegen jetzt in ihren bisher nur als Preprint veröffentlichten Experimenten zeigen konnten, durchaus beunruhigend: Die neutralisierende Aktivität polyklonaler Seren gegenüber bestimmten RBD-Mutationen könnte um mehr als den Faktor zehn geringer sein. Dies gilt insbesondere für E484-Mutationen – wie eben die kürzlich in Südafrika und Brasilien beschriebene E484K Mutation.
Bekannt gemacht und interpretiert hat diese Ergebnisse in den letzten Tagen unter anderem Dr. Ali Nouri, Molekularbiologe und Präsident der Federation of American Scientists. Die Forschungsarbeiten des Bloom Labs könnten aus seiner Sicht durchaus Konsequenzen für Impfungen haben, so Nouri in einer Tweet-Serie. Die Ergebnisse seien klar beunruhigend. Aber die Tatsache, dass die neutralisierende Aktivität nur reduziert und nicht völlig eliminiert war, könne immerhin dafür sprechen, dass starke Impfantworten auf die derzeit eingesetzten Impfstoffe auch vor SARS-CoV-2-Viren mit E484-Mutationen noch schützen.
Klar sei allerdings auch, so Nouri, dass das SARS-CoV-2 umso mehr Möglichkeiten habe, Escape-Mutationen zu entwickeln, die es unempfindlich(er) für Impfstoffe machen, je unkontrollierter die Pandemie ist. Mit anderen Worten: Dass klinisch relevante Mutationen gerade jetzt zu einem größeren Thema werden, wo die Pandemie in vielen Ländern außer Kontrolle ist, das ist kein Zufall.
Mit der Frage, was genau die Entstehung bzw. die evolutionäre Selektion von Escape-Mutationen begünstigt, hat sich Professor Eddie Holmes, Experte für Evolutionäre Virologie an der Universität Sydney in Australien, beschäftigt. In einem längeren Video-Interview mit Professor Eric Topol vom Scripps Research Institute in den USA betonte Holmes Anfang Januar, dass die These, wonach die B117-Virusvariante zuerst in immunsupprimierten Patienten aufgetreten sein könnte, aus seiner Sicht sehr viel für sich habe.
Immunsupprimierte Patienten trügen das Virus deutlich länger in sich, weil sie wegen der (krankheitsbedingten oder medikamentösen) Immunsuppression nur eine partielle Immunantwort zeigten. Das Virus habe dadurch zum einen mehr Zeit, auch ungewöhnliche Veränderungen zu selektionieren. Zudem stelle die partielle Immunantwort einen gewissen Selektionsdruck dar, der die Virusevolution beschleunigen könne.
Eher skeptisch ist Holmes bei einer anderen im Hinblick auf B117 populären These, wonach die B117-Virusvariante von SARS-CoV-2 in England unter anderem deswegen so gut Fuß fassen konnte, weil dort zu freigiebig Rekonvaleszentenplasma eingesetzt worden sei. Rekonvaleszentenplasma würde auf Populationsebene erst dann den Selektionsdruck erhöhen, so Holmes, wenn es bei der Mehrheit der Infizierten eingesetzt würde. Das sei eindeutig nicht der Fall. Umgekehrt könnte aber Rekonvaleszentenplasma auf individueller Ebene – etwa bei immunsupprimierten Patienten – zusätzlich den Selektionsdruck erhöhen und die Entstehung neuer Varianten begünstigen.
Vor dem Hintergrund all dieser Entwicklungen und Beobachtungen ist die eigentlich interessante Frage mit Blick auf die SARS-CoV-2-Impfstoffe die nach deren Langzeiteffektivität: Inwieweit erhöhen SARS-CoV-2-Therapien oder auch Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 den Selektionsdruck auf die Viren so sehr, dass Escape-Mutationen – ob bei immunsupprimierten Patienten oder anderswo – häufiger auftreten – und damit möglicherweise auch Escape-Mutationen, bei denen die derzeitigen Impfstoffe nicht mehr wirken? In einer solchen Konstellation würden dann möglicherweise Auffrischimpfungen in regelmäßigen Abständen nötig, die, ähnlich wie beim Grippevirus, den jeweils zirkulierenden Varianten durch Impfstoffmodifikation Rechnung tragen.
Ob das so kommt oder nicht, weiß derzeit noch niemand. Aber Holmes hält das Szenario zumindest für denkbar. Wichtig sei, sich klarzumachen, dass die Virusevolution in Phasen ablaufe. In der ersten Phase, im Jahr 2020, traf das Virus auf eine immunologisch weitgehend naive Bevölkerung, in der es sich – abhängig vom Umfang der Social Distancing Maßnahmen und der Schutzmaßnahmen für Risikogruppen – weitgehend ungehindert ausbreiten konnte. Der Selektionsdruck war gering, weil genug potenzielle Wirtsorganismen, also Menschen, zur Verfügung standen.
Je mehr Immunität es gibt, ob mit oder ohne Impfstoff erreicht, umso stärker ändert sich die „Selektionslandschaft“, wie Wilson es ausdrückt. Das könnte das Virus zu Veränderungen zwingen, entweder in Richtung höhere Infektiosität oder aber auch in Richtung geringerer Morbidität und/oder geringerer Sterblichkeit. Beides würde dem Virus helfen, sich unter schwieriger werdenden Bedingungen auszubreiten.
Prof. Scott Hensley, virologischer Immunologe an der Universität Pennsylvania, betonte in einer Tweet-Serie, dass Mutationen, die bei der pandemischen Influenza die Übertragbarkeit verbessern, oft mit einer geringeren Letalität einhergehen. Das wäre zumindest ein plausibles – und halbwegs hoffnungsvolles – Szenario. „Wir werden sehen, dass das Virus sich weiterentwickeln wird, das ist absolut sicher“, so Eddie Holmes. „Es tut dies mit durchschnittlicher Geschwindigkeit, etwa dreimal langsamer als das Influenza-Virus.“
Bildquelle: Andriy Tod, unsplash