Die neue Corona-Variante aus England könnte sich auch hierzulande stark auf die Übertragungsrate von SARS-CoV-2 auswirken. Ein Rechenmodell gibt Grund zur Sorge.
Offenbar ist die Virus-Variante B.1.1.7. auch schon länger in Deutschland unterwegs. Bei Proben, die Ende November entnommen und nachträglich sequenziert wurden, handelte es sich um die neue Virus-Variante. Das berichtete Ende Dezember das niedersächsische Gesundheitsamt.
Die Variante, die inzwischen auch „Variant of Concern (VOC) 202012/01“ genannt wird, hat laut einer aktuellen Analyse einen deutlichen Vorteil bei der Übertragung gegenüber bisher zirkulierenden Formen. Der R-Wert dieser Variante liege unter den Bedingungen vor Ort um 0,4 bis 0,7 höher. Zudem machen Menschen unter 20 Jahren einen höheren Anteil bei den VOC-Infizierten aus als bei den Infizierten mit anderen Varianten.
Dass die Variante auch schwerere Verläufe auslöst, ist vermutlich aber nicht der Fall. Das legt zumindest eine erste britische Kohortenstudie mit 1.769 Infizierten nahe. Diese Probanden waren mit der neuen Virus-Variante infiziert. Von ihnen mussten 0,9 Prozent in einer Klinik behandelt werden. Von einer Vergleichsgruppe, die mit einer bekannten Form des Virus infiziert waren, mussten 1,5 Prozent ins Krankenhaus. Die Ergebnisse sind allerdings nicht statistisch signifikant.
Die leichtere Übertragbarkeit wird vermutlich dazu führen, dass B1.1.7. schon bald die dominierende Variante in Deutschland sein wird. Warum das den Verlauf der Pandemie massiv beeinflussen könnte, erklärt der Epidemiologe Adam Kucharski auf Twitter. Dort vergleicht er zwei mögliche Varianten, eine mit einer um 50 Prozent gesteigerten Übertragungsrate, und die andere mit einer um 50 Prozent erhöhten Letalität.
Für seine Rechnung nimmt er eine aktuelle Reproduktionszahl von 1,1 an, bei der jeder Infizierte im Schnitt etwas mehr als einen anderen Menschen ansteckt. Die Letalität setzt er mit 0,8 Prozent an und die Generationszeit mit sechs Tagen. Wenn man also von 10.000 derzeit Infizierten in einer Großstadt ausginge, könne man in einem Monat rein rechnerisch 129 Tote durch COVID-19 erwarten. Wäre das Virus nun um 50 Prozent tödlicher, aber nicht ansteckender, wäre im gleichen Zeitraum mit 193 Toten zu rechnen.
Wäre es jedoch – was bei der neuen Variante nicht unwahrscheinlich scheint – stattdessen zu 50 Prozent infektiöser, würde das in Kucharskis Rechnung zu 978 Toten statt 193 Toten führen. Diese Zahlen zeigen nochmal eindrücklich die Krux der exponentiellen Verbreitung des Virus.
Unter anderem aus diesem Grund werden zur Eindämmung der Pandemie strengere Maßnahmen nötig werden, meint etwa Virologe Jörg Timm von der Uniklinik Düsseldorf.
Menschen mit stark geschwächtem Immunsystem nehmen hier eine besondere Rolle ein. In der Corona-Pandemie zählen sie zu den Gefährdetsten und gleichzeitig sind sie für Mutationen ein beliebtes Ziel. Forschern des britischen COVID-19 Genomics Consortium (COG-UK) zufolge hat sich das B.1.1.7.-Cluster vermutlich in einem immunsupprimiertem Patienten entwickelt (wir berichteten).
Bei Patienten mit schwachem Immunsystem hat SARS-CoV-2 die Möglichkeit, besonders häufig zu mutieren. Das konnten Studien bereits zeigen. Insbesondere wenn chronisch infizierte Patienten mehrmals mit Rekonvaleszentenserum behandelt werden, weisen die Viren eine ungewöhnlich hohe Zahl an Mutationen auf. Solche Patienten vor einer Infektion mit SARS-CoV-2 zu schützen, sollte dementsprechend nach wie vor allerhöchste Priorität haben.
Ein Beitrag von Anke Hörster und Lea Wask.
Bildquelle: Angelo Gargano, flickr