„Was hat Sie bisher davon abgehalten, sich das Leben zu nehmen?“ Das ist eine wichtige Frage bei akuter Suizidalität im Rettungsdienst. Was man in Gesprächen sagen sollte und was nicht, lest ihr hier.
In der S2k-Leitlinie Notfallpsychiatrie 2019 der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) werden drei Stufen von Suizidalität unterschieden:
„Fast alle Suizidenten geben vorher Hinweise auf ihr Vorhaben. […] Suizid [ist] meist keine freie Entscheidung! Suizidalität ist selbst keine Krankheit, sondern Symptom eines zugrundeliegenden Problems oder einer Erkrankung. Häufigste Ursachen eines Suizidversuchs sind psychiatrische Erkrankungen und kurzfristige psychische Störungen als Reaktion auf Lebenskrisen. Suizidalität ist kein Ausdruck von Freiheit und Wahlmöglichkeit, sondern von Einengung durch schwere Not.“ (Flüchter, 2012)
Ein mögliches Vorgehen zur Exploration von Suizidalität könnte wie folgt aussehen (vgl. Dorrmann, 2014):
Vorstellung des Teams, Schaffen eines geeigneten Settings in geschützter Umgebung. Regeln des aktiven Zuhörens beachten, Zeit nehmen, Patienten ernst nehmen. Konkrete Ansprache der Suizidgedanken („das Kind beim Namen nennen“):
Patienten sollten wiederholt mit ihrem Namen angesprochen werden (Realitätsbezug herstellen).
Die Reflexion der Patienten anregen (Ambivalenz fördern).
Empfehlenswert ist es, eine telefonische Rücksprache mit den zuständigen Therapeuten der laufenden ambulanten Therapie bzw. den Psychiatern der aufnehmenden Klinik zu halten. Ergänzend soll an dieser Stelle noch die Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit dem zuständigen Allgemeinmediziner genannt werden, der den Krankheitsverlauf der Patienten meist gut schildern kann.
Eine somatische Abklärung nach ABCDE-Schema, SAMPLER-Anamnese etc. ist stets durchzuführen. Die persönliche Verantwortung für den Schutz der Patienten sollte klar kommuniziert und gleichzeitig an deren Fähigkeit zur Selbststeuerung appelliert werden. Die Verantwortlichen sollten Transparenz und Aufklärung hinsichtlich des weiteren Einsatzablaufs geben, im Sinne einer Verlaufsaufklärung:
Allein die direkte Ansprache von Todeswünschen entlastet suizidale Patienten (vgl. Flüchter, 2012).
An dieser Stelle soll nochmals verdeutlicht werden, dass dieses Vorgehen lediglich eine überbrückende Krisenintervention inklusive Anamneseerhebung und keine Psychotherapie darstellt. Oberstes Ziel ist es, die Selbstkontrolle der Patienten zu fördern und sie in ihrer Entscheidungsverantwortung zu stärken. Generell sollte immer möglichst deeskalierend und professionell vorgegangen werden.
Falls eine Fremdanamnese über Bezugspersonen oder Angehörige möglich ist, sollte neben der Ausgangssituation und der Auffindesituation der Patienten auch nach kürzlichen Verhaltensänderungen gefragt werden, wie z. B. ungewohnt aggressives bzw. agitiertes Auftreten oder vermehrter Rückzug aus der Öffentlichkeit (Isolation). Die Befragung kann unter angemessener Diskretion von den Kollegen übernommen werden.
Nach Abwägung der oben genannten Risikofaktoren mit etwaigen endgültigen Aussagen (Abschiedsbriefe, -SMS etc.) oder auffälligen Tätigkeiten der vergangenen Wochen (z. B. übermäßige Geld- oder Wertgeschenke an enge Mitmenschen) sollte ein freiwilliger Transport in eine geeignete Einrichtung angestrebt werden. Gegebenenfalls erfordert eine Verletzung, Intoxikation oder akute somatische Erkrankung eine primäre Vorstellung in einer interdisziplinären Notaufnahme.
Eine frühzeitige Voranmeldung ist in allen Fällen obligatorisch, ebenso wie eine kontinuierliche 1:1-Betreuung des Patienten mit gründlicher Dokumentation im Nachgang. Sollte nach ausführlicher Aufklärung die mangelnde Compliance der Betroffenen eine Zwangsunterbringung durch polizeilichen Gewahrsam zwingend erforderlich machen (bei Eigen- und/oder Fremdgefährdung), so ist unbedingt auf Verhältnismäßigkeit zu achten (siehe auch: S3-Leitlinie Verhinderung von Zwang: Prävention und Therapie aggressiven Verhaltens bei Erwachsenen). Die sofortige vorläufige Unterbringung erfolgt in Deutschland uneinheitlich nach dem jeweiligen Landesrecht: Den Psychisch-Kranken-(Hilfe) Gesetzen (PsychK(H)G) bzw. dem Unterbringungsgesetz (UBG, Saarland).
Zwangsmaßnahmen (z. B. Fesselung) sind hoheitliche Aufgaben der Polizei! Möglicherweise ist als Ultima Ratio zur Entlastung der Patienten und zur Sicherheit aller Beteiligten eine Zwangsmedikation mit Tranquilizern (z. B. Diazepam i.v., Lorazepam bukkal, Midazolam intranasal) bzw. der Einsatz sedierender Neuroleptika wie Haloperidol oder Promethazin intramuskulär vonnöten.
„Grundsätzlich muss klar sein, dass trotz aller Bemühungen des Rettungsdienstpersonals die Möglichkeit des anschließenden Suizids besteht, für den jedoch [die Patienten] die alleinige Entscheidungsverantwortung [tragen]“ (Luxem, 2017).
Ein vollendeter Suizid stellt immer ein traumatisches Erlebnis für alle Beteiligten dar, demgegenüber sollte jedoch die Professionalität von Seiten der Rettungskräfte gewahrt werden, um ein strukturiertes Vorgehen zu ermöglichen. Sofern noch nicht erfolgt, werden in diesem Fall der Notarzt (zur Todesfeststellung), die Polizei und ggf. der Kriseninterventionsdienst (KID, PSNV) nachalarmiert. Sind sichere Todeszeichen erkennbar, wird der Leichnam bis zum Eintreffen der Polizei nicht weiter manipuliert, da es sich bei einem vollendeten Suizid immer um eine nicht-natürliche Todesursache und somit um einen Tatort handelt.
Nach jeglicher Krisenintervention bei suizidalen Patienten ist eine vertrauensvolle, konstruktive Einsatznachbesprechung innerhalb des Teams und in geeignetem Setting, mit Fokus auf dem persönlichen Belastungserleben, sinnvoll. Abschließend soll noch einmal deutlich auf die Wahrnehmung von Angeboten der psychologischen Nachsorge für Einsatzkräfte (PSNV-E, PEER, Psychotherapie etc.) nach belastenden Ereignissen hingewiesen werden. Diese Maßnahmen tragen zu einem großen Teil zur Prävention von Burn-Out Erkrankungen oder posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) bei.
In einer retrospektiven Analyse von Vigil et al. aus dem Jahr 2018 hatten EMTs in Arizona übrigens eine signifikant höhere Mortalität durch Suizid im Vergleich zu Nicht-EMTs. Kollegen sollte daher auch stets mit Offenheit und Verständnis statt Ablehnung gegenüber psychischen Erkrankungen und suizidalen Handlungen begegnet werden. Hier gibt es ein positives Beispiel aus Bayern für telefonische Soforthilfe, speziell für medizinisches Fachpersonal.
Es herrscht immer noch eine spürbare Verunsicherung gegenüber psychischen Erkrankungen und die Stigmatisierung dieser Thematik ist gerade bei medizinischem Fachpersonal weit verbreitet. Die Helfenden sehen sich losgelöst von einer Anfälligkeit für psychische Erkrankungen. Sie sprechen offen über somatische Berufskrankheiten wie z. B. einen Bandscheibenprolaps, eine emotionale Belastung hingegen wird verschwiegen bzw. verharmlost. Im Rettungsdienst ist hier subjektiv noch viel Schulungsbedarf vorhanden.
Gerade in Zeiten einer weltweiten Pandemie nehmen psychische Erkrankungen in ihrer Häufigkeit und Schwere zu. Eine aktuelle, systematische Untersuchung der Studienlage von Vindegaard und Benros ergab ein hohes Maß an posttraumatischen Stresssymptomen (PTSS) und ein signifikant höheres Maß an depressiven Symptomen bei COVID-19 Patienten. Patienten mit bereits bestehenden psychischen Störungen berichteten von einer Verschlechterung ihrer Symptome.
Studien, in denen Mitarbeiter des Gesundheitswesens untersucht wurden, ergaben vermehrt Depressionen bzw. depressive Symptome, Angstzustände, psychische Belastungen und eine verschlechterte Schlafqualität. Studien in der Öffentlichkeit zeigten, im Vergleich zum Zeitraum vor der COVID-19 Pandemie, ein geringeres psychisches Wohlbefinden und eine höhere Anfälligkeit für Angstzustände und Depressionen, während beim Vergleich dieser Symptome in der Anfangsphase des Ausbruchs bis vier Wochen später kein Unterschied bestand.
Vor allem Kinder und Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt wurden, fielen in der Schule bzw. am Arbeitsplatz häufiger auf und konnten auf diese Weise sozialen Hilfseinrichtungen zugeführt werden, was in Zeiten von Schule per Videochat und Homeoffice vermehrt unentdeckt bleibt. Auch wenn die Schutzmaßnahmen uns auf Abstand zu anderen Menschen halten, sollten wir, als Tätige im Gesundheitssystem, noch deutlich mehr aufeinander achten, als wir es sonst schon tun und aufmerksamer sein für andere Menschen, die sich gerade nicht selbst helfen können.
Für diejenigen, die nur runtergescrollt haben, um die Zusammenfassung zu lesen: Hier seid ihr richtig! Die folgende Taschenkarte zum Artikel fasst auf zwei Seiten die wichtigsten Kernaussagen nochmals zusammen und soll eine Hilfestellung bieten für die Strukturierung des Einsatzablaufes, die Dokumentation und Anamnese sowie den fachlichen Umgang mit akuter Suizidalität im Rettungsdienst. Ach ja, und für alle, die sich noch fragen, was das Ganze nun mit dem Eisbergsalat aus Teil eins zu tun hat:
Quellenangaben:
Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde DGPPN, (Stand: 13.04.2019) S2K Leitlinie Notfallpsychiatrie. AWMF-Registernummer: 038-023.
P. Flüchter, V. Müller, F. – G. B. Pajonk (2012). Suizidalität: Procedere im Notfall. Medizinische Klinik – Intensivmedizin und Notfallmedizin.
T. Teismann & W. Dorrmann – Suizidalität, © 2014 Hogrefe, Göttingen.
Luxem et al. (2017). Notfallsanitäter Heute. 6. Auflage. Herausgeber: Urban & Fischer Verlag.
Neil H. Vigil, Andrew R. Grant, Octavio Perez, Robyn N. Blust, Vatsal Chikani, Tyler F. Vadeboncoeur, Daniel W. Spaite, Bentley (2018). Death by Suicide – The EMS Profession Compared to the General Public. J. Bobrow. Prehospital Emergency Care.
Nina Vindegaard, Michael Eriksen Benros (2020). COVID-19 pandemic and mental health consequences: Systematic review of the current evidence. Brain, Behavior, and Immunity.
Bildquelle: Lawrence Hookham, Unsplash