Do-it-yourself-Dentistry ist in England im Trend: Immer mehr Patienten „behandeln“ lose Kronen oder Füllungen in Eigenregie. Hartgesottene schrecken selbst vor Extraktionen nicht zurück. Neben den Einsparungen geht es dabei um Versorgungsengpässe bei gesetzlich Versicherten.
Basteln am heimischen Küchentisch: Wie Fachgesellschaften berichten, befanden sich bei 70 Prozent aller Zahnärzte bereits Heimwerker der besonderen Art auf dem Behandlungsstuhl. Bei ihnen hatte sich eine Krone gelöst oder eine Plombe gelockert. Doch der Weg führte nicht in die nächste Praxis. Vielmehr erwarben Laien Do-it-yourself (DIY) Dental Kits in Apotheken, Drogerien, Supermärkten oder bei Online-Versendern.
Die beliebten Sets kosten je nach Anbieter und Umfang umgerechnet 4 bis 18 Euro. Sie enthalten Zement und einfache Applikatoren. Zahnmedizinische Instrumente wie Sonden oder Dentalspiegel, Boxen für ausgeschlagene Zähne sowie Eugenol sind bei umfangreicheren Kits mit dabei – inklusive steriler Spritzen plus Kanülen. Hersteller argumentieren in der Anleitung, ihre Produkte sollten vor allem als Erste-Hilfe-Maßnahme zum Einsatz kommen, falls sich beispielsweise Rucksacktouristen jenseits zahnmedizinisch versorgter Regionen aufhalten. Steril verpackte Instrumente sind rar, sollten Reisende doch noch einen Zahnarzt finden. Soviel zur Theorie. In der Praxis versuchen viele Laien, am heimischen Küchentisch Probleme dauerhaft zu beheben.
„DIY-Zahnheilkunde ist mittlerweile ziemlich verbreitet“, sagt Emma Richardson vom britischen STAR-Projekt. STAR unterstützt Menschen bei sozialen und gesundheitlichen Fragestellungen. „Sie können Kits bei Boots und Asda kaufen, und ganze Familien greifen darauf zurück, um die Zähne in Schuss zu halten.“ DenTek, einer der größten Hersteller, produziert momentan 250.000 Einheiten pro Jahr. Generell veröffentlichen Firmen keine Studien zur Langzeitstabilität – mit dem Hinweis, ihre Sets dienten lediglich der zeitlichen Überbrückung bis zum Zahnarzttermin. Britische Gesundheitsexperten spekulieren jedoch, dass viele Bürger versuchen, vermeintlich dauerhafte Reparaturen durchzuführen. Die Gründe sind vielfältig: Manche sozial benachteiligten Patienten scheuen sich, Formulare auszufüllen, um kostenlose Behandlungen in Anspruch zu nehmen. Andere scheitern Richardson zufolge bereits bei der Terminvereinbarung – sie haben kein Geld, um ihre Prepaid-Karte aufzuladen. Bleiben noch die Behandlungskosten selbst. Der britische National Health Service (NHS) sieht in seiner Gebührenordnung mehrere Pauschalen vor. Umgerechnet 26 Euro sind für präventive Maßnahmen und für Notfallbehandlungen fällig. Extraktionen, Füllungen oder Wurzelkanalbehandlungen schlagen mit 72 Euro zu Buche, und für 309 Euro gibt es Kronen oder Brücken. Wer Unterstützungsleistungen vom Staat erhält, muss weniger Geld berappen. Trotzdem gibt es viele Patienten, die sich selbst geringere Summen nicht leisten können. DIY – nur eine Frage des Geldes?
NHS-Vertreter geben sich mit dieser Argumentation nicht zufrieden. Sie fanden heraus, dass neben Kostenaspekten und der Scham, staatliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen, Patienten häufig aus Furcht den Zahnarztbesuch meiden. Studien zufolge quälen sich zwischen fünf und 15 Prozent aller Menschen mit dieser Angststörung in pathologischem Umfang. Lediglich starke Schmerzen treiben sie in die Praxis. Für sie sind DYI-Kits zumindest bei lockeren Kronen oder zerstörten Füllungen eine willkommene Alternative. Bei Reparaturen in Eigenregie werden kariöse Defekte nicht versorgt. Mögliche Folgen: massive Schäden und starke Einschränkungen bei der Lebensqualität. Doch selbst Patienten ohne Scheu vor dem Behandlungsstuhl haben ihre Probleme.
Im Vereinigten Königreich fehlen Zahnärzte, die Patienten im Rahmen des NHS versorgen. Während in Deutschland rund 90.000 Zahnärzte arbeiten, davon etwa 55.000 Vertragszahnärzte und 500 Privatzahnärzte, hat der NHS gerade einmal 40.000 Kollegen mit an Bord. Manche Patienten müssen 60 oder mehr Kilometer zurücklegen – in Ermangelung von Alternativen. Wer die Praxis wechselt, hat teilweise bis zu zwei Jahre Wartezeit einzuplanen, bis er sich als neuer Patient registrieren kann. Das führt zu absurden Situationen im Stile Mr. Beans. Angaben der British Dental Health Foundation zufolge hat jeder fünfte Brite mindestens einen Zahn in Eigenregie extrahiert – oder Freunde um den Gefallen gebeten. Privatbehandlungen können sich nur wenige leisten. Rohrzange statt Zahnzange und Alkohol statt Anästhesie – eine wenig erbauliche Vorstellung. Nigel Carter, Chef der British Dental Health Foundation, berichtet von Infektionen. Manche Laien hätten auch schon gesunde Zähne gezogen. Er warnt vor eigenen Behandlungsversuchen, hat aber keine Lösung des grundlegenden Problems parat. Von den Erkenntnissen kann Deutschland nur lernen, wohin falsche Ressourcenplanungen und übertriebene Sparmaßnahmen führen.