Im Rahmen des Referendums haben sich 61 Prozent der Griechen gegen Finanzierungsangebote und Reformauflagen internationaler Geldgeber entschieden. Bleiben weitere Kredite aus, leiden kranke Menschen besonders. Das Gesundheitssystem steht vor der Auflösung.
Mission gescheitert: Griechenlands umstrittener Ministerpräsident Alexis Tsipras war bei seinem Amtsantritt fest entschlossen, das Gesundheitssystem tiefgreifend zu reformieren. Er sprach von Plänen, von Visionen. Und er bemängelte eklatante Defizite, die schon weit vor der Krise zu Tage getreten seien. Tsipras zufolge habe jeder vierte Grieche keine Krankenversicherung – das sind 2,5 Millionen Menschen. Sein Maßnahmenpaket sah vor, 4.500 Fachkräfte einzustellen, unter anderem in Kliniken. Und nicht zuletzt drohte er korrupten Health Professionals mit drakonischen Strafen. Monate später erkennt Europa, dass der Linkspolitiker mit seiner Strategie auf ganzer Linie gescheitert ist. Auch die Troika muss sich handwerkliche Fehler eingestehen. Pandoras Büchse hat sich geöffnet.
Zwar haben Griechen ohne Krankenversicherung mittlerweile das Recht, sich in Kliniken kostenfrei behandeln zu lassen – theoretisch. EU-Schätzungen zufolge sind 50 bis 70 Prozent auf entsprechende Angebote zur Gesundheitsversorgung angewiesen. Wochenlange Wartezeiten gehören zur Realität, vor allem in Großstädten. Die Zahl an Betten ist aufgrund von Troika-Forderungen stark geschrumpft. Regionale Krankenhäuser funktionieren größtenteils nicht mehr, berichten Griechen über Blogs. Die Staatskassen sind leer, und europäische Geldgeber haben den Hahn zugedreht. Vor Ort fehlen Geräte, Arzneimittel – und vor allem Fachkräfte. Rund 5.000 Ärzte wurden in die Arbeitslosigkeit entlassen. Wie viele Apotheken für immer schließen mussten, lässt sich derzeit nicht sagen. Zum ersten Mal in der Geschichte Griechenlands verlassen Ärzte, Apotheker und Pflegekräfte scharenweise das Land – früher waren es eher Menschen mit schlechter Ausbildung. In den letzten Tagen hat sich dieser Trend weiter verstärkt. Wer bleibt, muss mit Lohneinbußen bis hin zum Zahlungsausfall rechnen, der Staat ist insolvent. Da bleibt so manche Weste nicht lange weiß.
Je dringender Patienten auf einen Arzttermin warten oder ein Präparat benötigen, desto größer wird ihre Bereitschaft, Heilberuflern Gefälligkeiten zu erweisen. „Fakelaki“ (auf Deutsch „kleiner Umschlag“) gilt als häufig praktizierte Form der „Zuwendung“ – und ist kein Produkt neuerer Tage. Patienten bestechen Ärzte, um nicht monatelang auf ihre OP zu warten oder um doch noch das begehrte Arzneimittel aus eisernen Reserven zu erhalten. Ihnen fehlen zwar größere Summen, doch springen Familienmitglieder aus anderen Ländern ein, wenn es um die Gesundheit ihrer Eltern, Großeltern, Onkel oder Tanten geht. Das Ausmaß hat exorbitant zugenommen, seit Griechenland am europäischen Tropf hängt. Tsipras´ hehres Ziel, „Fakelaki“ ein Ende zu bereiten, ist außer Reichweite. Auch habe die Praxis, für Behandlungen keine Rechnung auszustellen, stark zugenommen, berichten Griechen Beobachtern der EU. Die Situation spitzt sich zu.
Pharmafirmen und Großhändler jenseits griechischer Grenzen lassen sich von derartigen Hiobsbotschaften nicht beirren. Die Branche zeigt sich gelassen, ohne unvorsichtig zu werden. Richard Bergström, Generalsekretär des europäischen Pharmaverbandes efpia, zufolge summieren sich die Außenstände auf 1,1 Milliarden Euro. Das entspricht 27 Prozent des regionalen Marktvolumens; im Normalfall liegt der Wert bei 19 Prozent. Griechenland gilt ohnehin als kleiner Markt in der EU. Nahezu alle Präparate werden importiert, und knapp zwei Drittel der Arzneimittelkosten laufen bei staatlichen Stellen auf – die ohne weitere Hilfen nicht mehr zahlungsfähig sind. Bergström zufolge haben Konzerne Gespräche mit der EU-Kommission aufgenommen. Firmen sind bereit, weiterhin Arzneimittel nach Griechenland zu liefern, allerdings unter einigen Bedingungen. Stellen Konzerne verbilligte Präparate zur Verfügung, müssen Politiker sicherstellen, dass Präparate über dubiose Kanäle nicht plötzlich als Reimporte in anderen Ländern auftauchen. Entsprechende Fälle hatte es bereits in der Vergangenheit gegeben, sehr zum Ärger der Industrie. Von der Arzneimittelversorgung werden griechische Patienten langfristig nicht komplett abgeschnitten – langfristig, wohlgemerkt.
Hinter den Verhandlungen mit Firmen steckt auch das schlechte Gewissen der Troika. Gemeinsam haben die Europäische Kommission, die Europäische Zentralbank (EZB) und der Internationale Währungsfonds (IWF) Griechenland gezwungen, Gesundheitsausgaben auf sechs Prozent des Bruttosozialprodukts zu deckeln. Damit nicht genug: Aufgrund schwindender Bargeldreserven sind Engpässe bei Arzneimitteln oder Medizinprodukten längst zur Realität geworden. Ob oder wann verbilligte Lieferungen anlaufen, ist Experten zufolge ungewiss. Die Folgen reichen schon heute von höheren Kindersterblichkeiten und steigenden Zahlen an HIV-Neuinfektionen bis hin zu ersten Malariafällen, nachdem Programme zur Mückenkontrolle nicht mehr finanziert werden. Was kommt demnächst? Starten „Ärzte ohne Grenzen“ und „Apotheker ohne Grenzen“ erste Hilfseinsätze im Herzen Europas?