In der evidenzbasierten Medizin haben Leitlinien ihren festen Platz. Welche Zutaten sie enthalten und wie sie gemacht werden, wissen nur wenige. Leitlinienwatch geht der Sache auf den Grund und zeigt, welche Rolle Geld und Interessenkonflikte spielen.
„Patienten mit Depressionen werden zu selten leitliniengerecht behandelt“, kritisiert die Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin (DGPM) in einer Meldung. Sie stört sich daran, dass Ärzte mehr und mehr Antidepressiva verordnen. Bei leichten Formen der Erkrankung seien keine Medikamente vorgesehen und bei mittelschweren Formen seien Pharmaka nicht unbedingt Mittel der Wahl. Die DGPM will untersuchen, warum sich Ärzte nicht an evidenzbasierte Empfehlungen halten, sollte aber nicht vergessen: Leitlinien sind keine Rechtsnormen, sondern Empfehlungen, ohne die Therapiefreiheit einzuschränken.
Ina B. Kopp © AWMF „Immer wieder stellen Fachgesellschaften fest, dass ihre Leitlinien zu wenig in die Praxis umgesetzt werden“, sagt Professor Dr. Ina B. Kopp im Gespräch mit DocCheck. Sie ist stellvertretende Vorsitzende der Ständigen Kommission Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) und Leiterin des AWMF-Instituts für Medizinisches Wissensmanagement. Allerdings gebe es große Unterschiede zwischen dem ambulanten und dem stationären Bereich. „Für niedergelassene Ärzte haben wir kaum Daten“, sagt Kopp. Besser sieht die Sache bei Klinken aus. „Die Zertifizierung von Behandlungszentren stützt sich stark auf Leitlinienempfehlungen. Da ist die Umsetzung relativ hoch.“ Als Beispiel nennt sie die Onkologie. Im Jahresbericht der Krebsgesellschaft basieren Kennzahlen zur Diagnostik und Therapie auf Leitlinien. Datrauf basiert auch die Qualitätssicherung von Kliniken laut dem V. Sozialgesetzbuch. Derzeit gibt es im Register der AWMF rund 750 unterschiedliche Leitlinien, zu Beginn im Jahr 1995 waren es nur 95. Und es werden immer mehr.
„Impulse für neue Leitlinien gehen immer von den Fachgesellschaften aus“, sagt Kopp. „Gremien innerhalb der Fachgesellschaft, beispielsweise eine Leitlinienkommission, setzen dann Prioritäten.“ Oft gehe die Initiative auf einzelne Wissenschaftler mit speziellen Arbeitsschwerpunkten zurück. Manche Fachgesellschaften arbeiten auch mit Themenkatalogen und suchen Koordinatoren für einzelne Bereiche. Dabei wird auch entschieden, wie systematisch, d.h. mit welchem methodischen Aufwand, die Leitlinien entwickelt werden sollen. Grundlage ist das Regelwerk der AWMF, das der Qualitätssicherung der Leitlinien dient. „Welche S-Klasse gewählt wird, geschieht ebenfalls im Dialog, also innerhalb der Fachgesellschaft oder zwischen verschiedenen Fachgesellschaften.“ Das hat nicht nur wissenschaftliche Gründe. Je höher die S-Klasse, desto mehr Arbeit bedeutet das für Wissenschaftler und Ärzte.
„Eine S3-Leitlinie ist durch Literaturrecherchen, durch die Beschaffung von Quelltexten und durch deren Bewertung eben extrem aufwändig“, weiß Kopp. Die Kosten lassen sich schwer beziffern. Bei internationalen Projekten schlagen S3-Leitlinien schnell mit einer Million Euro zu Buche. Aus deutschen Förderprojekten nennt Kopp ca. 250.000 Euro pro Neuerstellung, wobei sich indirekte Kosten wie ehrenamtliche Stunden und intangible Kosten wie der Verdienstausfall nicht beziffern lassen. Wie stehen wir im internationalen Vergleich da?
„Klare Stärken der Leitlinien in Deutschland liegen in der Multidisziplinarität, also der Einbindung unterschiedlicher Fachrichtungen und Berufsgruppen sowie in der Patientenbeteiligung“, sagt Kopp. „Auch Patienten werden in den Entstehungsprozess eingebunden.“ In den USA seien fast alle Leitlinien monodisziplinär, und Patienten würden fast nie beteiligt. „Gut ist auch, dass die Leitlinienarbeit in den Händen der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften liegt.“ Großbritannien übertrug viele Arbeiten dem National Institute for Health and Care Excellence (NICE). Das Institut hat große Budgets für Leitlinienvorhaben. Staatliche Institutionen müssen allerdings oft auch primär Kosten für das Sozialsystem und Priorisierungen im Blick haben. Kopp: „Im Unterscheid dazu fokussieren die Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften auf Fragen zur Evidenz für ein spezielles Versorgungsproblem und lassen Normgeber entscheiden, was finanziell machbar ist.“ Diese Gewaltenteilung fördere Transparenz und den gesellschaftlichen Dialog. Als Schwäche nennt sie die „chronische Unterfinanzierung“ der Leitlinienarbeit medizinischer Fachgesellschaften. Wünschenswert wären unabhängige Geldquellen von Leitlinienprojekten, beispielsweise über den Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA). „Ohne ausreichende Mittel können nicht alle Leitlinienthemen, für die dies sinnvoll wäre, mit höchstem Aufwand, das heißt S3-Niveau entwickelt und zeitgerecht aktualisiert werden“, sagt Kopp. Die maximale Gültigkeitsdauer einer Leitlinie im Register der AWMF beträgt fünf Jahre. Veraltete Dokumente werden gelöscht, falls Fachgesellschaften keine Überarbeitung anmelden. Aus Sicht von Ärzten wäre eine Aktualisierung in kürzeren Zeiträumen wünschenswert. „Initiativen zur jährlichen Überprüfung und Feststellung des Überarbeitungsbedarfs im Sinne von „Living Guidelines“ werden bereits von vielen Fachgesellschaften angestrebt“, so Kopp. „Auch hierfür benötigen die Fachgesellschaften Unterstützung im Sinne unabhängiger finanzieller Ressourcen.“
Finanzielle Mittel spielen noch eine ganz andere Rolle bei Leitlinien. Seit Januar 2018 gelten bei der AWMF neue Regeln zur Darlegung von Interessen und zum Umgang mit Interessenkonflikten. Dabei geht es zunächst um Transparenz. Die geforderten Angaben orientieren sich an Standards, wie sie auch beim G-BA oder beim International Committee of Medical Journal Editors (ICMJE) gelten. „Darüber hinaus fordert die neue Regel aber detaillierte Angaben dazu, wie in einem Leitlinienprojekt die dargelegten Interessen bewertet wurden, ob und für welche Fragestellungen der Leitlinie sich daraus Konflikte ergaben und wie man damit umgegangen ist.“ Das kann beispielsweise Stimmenthaltung bei einem Arzneistoff sein. Christiane Fischer © MEZIS Das reicht Dr. Christiane Fischer nicht aus. „Unser Problem ist, dass bei Leitlinien gesetzliche Vorgaben fehlen“, sagt die ärztliche Geschäftsführerin von MEZIS – Mein Essen zahl ich selbst. „Autoren mit Interessenkonflikten, die etwa Gelder von Arzneimittelherstellern bekommen haben, werden nicht ausgeschlossen, wenn sie zu genau diesem Medikament Empfehlungen erarbeiten.“ Zwar gebe es einzelne Fachgesellschaften wie die Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) mit entsprechenden Selbstverpflichtungen. NeurologyFirst, eine Initiative deutscher Neurologen, setze sich ebenfalls für Pharma-unabhängige Leitlinien. Dies sei aber keineswegs Standard, so Fischer. Sie rät, sich bei leitlinienwatch.de zu informieren. In diesem Portal wurden bislang 173 Leitlinien anhand mehrerer Kriterien bewertet:
Nur 15 % bekamen das Prädikat „gut“, 40 % haben Schwächen und bei 45 % besteht dem Portal zufolge Nachbesserungsbedarf. Ärzte sollten genau hinsehen, bevor sie ihren Rezeptblock zücken.