Bei der Corona-Impfung will Spahn mit den älteren Menschen starten. Mit den Jüngeren zu beginnen, wäre aber auch eine Option. Wir sprechen mit zwei Experten über die Vor- und Nachteile – und die Sonderrolle von medizinischem Personal.
Seit heute Nachmittag liegen die Empfehlungen der STIKO vor. „Unter der Berücksichtigung der Impfquoten, der Erhebungen zur Impfakzeptanz sowie der Studien zur Impfeffektivität und -sicherheit wird die STIKO die Empfehlung zur COVID-19-Impfung regelmäßig evaluieren“, heißt es auf der Website des RKI. Den Beschluss der STIKO für die Empfehlung der COVID-19-Impfung und die dazugehörige wissenschaftliche Begründung kann man hier im Detail nachlesen.
Stufenplan und Impfindikationsgruppen zur Priorisierung der COVID-19-Impfung in Deutschland, Quelle: RKI
Ersten Medienberichten zufolge sieht der aktuelle Entwurf der „Verordnung zum Anspruch auf Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2“ des Bundesgesundheitsministeriums sehr ähnlich aus. Die Reihung soll dort in drei Prioritätsstufen erfolgen: Höchste Priorität, hohe Priorität und auf Rang drei erhöhte Priorität.
Was medizinische Berufe betrifft, sind demnach laut Entwurf an erster Stelle das Personal und die zu betreuenden Personen in Alten- und Behindertenpflegeeinrichtungen zu nennen, bzw. für selbige in der ambulanten Pflege. Außerdem noch ganz oben in der Reihung befinden sich „Medizinische Einrichtungen mit sehr hohem Expositionsrisiko“. Dazu zählen unter anderem medizinisch Tätige auf Intensivstationen, in zentralen Notaufnahmen, Rettungsdiensten oder Impfzentren sowie aufgrund der Aerosolwolke auch die Zahnärzte.
Hausärzte oder Fachärzte, die in der Grundversorgung tätig sind, belegen Platz zwei bei der Priorisierung. Apothekenpersonal wird auf Stufe 3 gelistet.
Bei besagtem Impfplan handelt es sich um einen von mehreren möglichen Ansätzen. Immer wieder melden sich in der Diskussion auch Experten zu Wort, die den Vorschlag einbringen, beim Impfen mit den jungen, gesunden Menschen zu beginnen. Anstatt den einzig wahren Weg zu eruieren, haben wir zwei Experten gefragt, welche Vor- und Nachteile die unterschiedlichen Modelle mit sich bringen.
Als Grundlage für die Priorisierung von bestimmten Bevölkerungsgruppen bei Impfprogrammen seien generell unterschiedlichste ethische Prinzipien vorstellbar, sagt André Karch, Lehrstuhlinhaber für klinische Epidemiologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Wenn man sich im Weiteren darauf beschränke, als Priorisierungsziel die Minimierung der mit dem Krankheitserreger verbundenen Krankheitslast in einer Bevölkerung zu betrachten, könnten ihmzufolge im aktuellen Kontext grob gesprochen zwei theoretische Ansätze der Priorisierung unterschieden werden. Diese fokussieren sich „entweder auf die direkten Impfeffekte bei der geimpften Person oder die indirekten Impfeffekte in der betroffenen Bevölkerung.“
Stellt man primär die indirekten Impfeffekte in den Mittelpunkt, wäre das Ziel, die Übertragung innerhalb der Bevölkerung möglichst schnell zu minimieren. Dadurch könnte man Infektionsketten effektiv unterbrechen und Risikogruppen indirekt schützen, ohne dass sie selbst geimpft sein müssen, wie der Experte ausführt: „Hierfür müssten die Personen in der Priorisierung am höchsten stehen, die am meisten zur Übertragung in der Bevölkerung beitragen. Dies sind typischerweise Menschen, die sehr viele Kontakte aufweisen. Oft sind dies junge Menschen, die im Arbeitsleben stehen und an kritischen Positionen in der Gesellschaft tätig sind.“
Kämen bei der Corona-Impfung die jungen Menschen als erstes dran, „würde man schon gleich zu Beginn die möglichen Super-Spreader aus dem Verkehr ziehen und so viel mehr potentielle Kontakte/Virusweitergaben verhindern als beim Impfen der Risikogruppen selber“, sagt Timo Ulrichs. Er ist Professor für Medizin, Mikrobiologie und Katastrophenhilfe an der Akkon Hochschule.
Ein mögliches Risiko, das Karch beim „Jung-zuerst-Modell“ sieht: Es „setzt voraus, dass eine Impfung tatsächlich auch indirekte Effekte mit sich bringt. Dies ist nur dann im relevanten Ausmaß der Fall, wenn der Impfstoff nicht nur vor symptomatischer Erkrankung sondern auch vor Infektion schützt, da nur dann eine geimpfte Person auch sicher nicht zur weiteren Übertragung des Erregers beitragen kann. Dies ist zum aktuellen Zeitpunkt für die sich kurz vor Zulassung befindlichen Impfstoffe noch nicht bekannt.“ Die nächste große Herausforderung sieht der Experte auch dann, wenn tatsächlich indirekte Effekte vorliegen sollten. „Die Personen, die tatsächlich am meisten zu Übertragung in einer Bevölkerung beitragen, müsste man auch identifizieren können. Dies ist für SARS-CoV-2 aktuell ebenfalls nur schwierig möglich“, argumentiert Karch.
„Die Risikogruppen wären immer noch sehr lange einer möglichen Virusübertragung ausgesetzt. Außerdem ist es nicht sicher, dass die jüngeren Bevölkerungsgruppen sich durchweg und gleich impfen lassen würden. Die Impfbereitschaft unter den Älteren und den Risikogruppen ist höher“, ergänzt Ulrichs.
Beim „Alt-zuerst-Modell“ werden hingegen die direkten Effekte der Impfung auf die geimpfte Person in den Mittelpunkt gestellt, da die Wahrscheinlichkeit eines schweren Verlaufs einer COVID-19-Erkrankung sehr stark mit zunehmendem Alter ansteigt. Die Personen, die persönlich das höchste Risiko eines schweren Verlaufes tragen, würden durch Impfung direkt geschützt werden, so Karch. Doch: „Um einen solchen Schutz gewährleisten zu können, muss der jeweilige Impfstoff auch tatsächlich innerhalb der Risikogruppen eine hohe Effektivität aufweist. Die bisher veröffentlichten Studien zu den kurz vor Zulassung befindlichen Impfstoffen bei SARS-CoV-2 deuten an, dass dies für diese Impfstoffe der Fall zu sein scheint.“
Ulrichs sieht es ähnlich: Man könnte schneller individuell schützen, was weniger schwere Verläufe und Todesfälle zur Folge hätte, „auch wenn die Neuinfiziertenzahlen noch länger hoch bleiben sollten.“ Allerdings könne es auch lange dauern, bis alle Mitglieder von Risikogruppen geimpft sein werden. „Einen epidemiologischen Effekt im Sinne einer Bekämpfung der Virusübertragung durch Impfung werden wir erst sehen, wenn auch die Jüngeren geimpft werden. Trotzdem ist die Empfehlung, zuerst die Risikogruppen zu impfen und dann erst alle Bevölkerungsgruppen mit geringerem Risiko eines schweren Covid-19-Verlaufes sinnvoll – um Menschenleben zu retten und die Auswirkungen der Pandemie abzumildern. Dass dann noch längere Zeit die Hygiene- und Abstandsregeln gelten werden, müssen wir in Kauf nehmen“, stellt Ulrichs klar.
Welche Priorität hat hier medizinisches Fachpersonal? Im Rahmen von Überlegungen zu möglichen Impfstrategien nimmt es laut Karch eine Sonderrolle ein, die Fakten fasst er nochmal wie folgt zusammen: Aufgrund des engen Kontakts mit schwerkranken Personen, besteht bei eigener Infektion ein großes Risiko für Übertragungen in die relevanten Risikogruppen für schwere Verläufe von COVID-19. Zudem steht infiziertes medizinisches Fachpersonal den entsprechenden Gesundheitseinrichtungen nicht zur Verfügung, so dass weitere negative Effekte in der Krankenversorgung zu befürchten wären, gerade mitten in einer angespannten Phase der Pandemie. „Neben medizinischem Fachpersonal spielt hier aufgrund des intensiven Kontaktes mit Personen in Risikogruppen vor allem das Pflegepersonal in ambulanten und stationären Einrichtungen eine große Rolle.“
„Medizinisches und pflegerisches Fachpersonal mit Kontakt zu (möglichen) COVID-19-Patienten sollte prioritär geimpft werden, auch andere Disziplinen, etwa diejenigen, die mit immunsupprimierten Patienten umgehen, sollten möglichst zuerst die Impfung erhalten“, schlägt Ulrichs an dieser Stelle vor. „Außerhalb von Medizin und Pflege ist es v.a. wichtig, sogenanntes Schlüsselpersonal zu impfen, also Personen mit hoher Kontaktwahrscheinlichkeit zu anderen Menschen, z.B. an der Supermarktkasse, bei der Polizei oder im ÖPNV.“
Was Maßnahmen betrifft, die einen zielgerichteten Schutz der Risikogruppen zum Ziel haben, sei noch Luft nach oben. Karch: „Leider zeigt die Erfahrung der letzten Monate, dass hier deutliches Verbesserungspotential vorhanden ist. Allerdings wird ein alleiniger Fokus auf die Risikogruppen selbst nicht ausreichen, um diese adäquat schützen zu können.“ Indirekte Schutzeffekte durch eine Verringerung der Übertragungen in der Restbevölkerung seien auch weiterhin notwendig.
Morgen (Freitag) soll die neue Impfverordnung erlassen werden. Welche Rolle sie in der Realität spielen wird, ist eine andere Frage. Denn was passiert, wenn die Massen ausbleiben?
Wenn man den Andrang in anderen Ländern hochrechnet, ist der Zulauf im Moment noch ernüchternd: Im Vereinigten Königreich ließen sich bislang rund 137.000 Menschen gegen das Coronavirus impfen, das entspricht 0,2 Prozent der Gesamtbevölkerung (67 Millionen). Natürlich ist davon auszugehen, dass sich die Impfzentren erst einmal etablieren müssen und die Zahl der täglich geimpften Personen dementsprechend noch ansteigen wird. Doch die Teilnahmequote von 70 Prozent, die Bundeskanzlerin Merkel und Experten für Deutschland anpeilen, ist ein hoher Wert und dürfte schwer zu erreichen sein. Immerhin geht aus der jüngsten Umfrage von COSMO zur Impfbereitschaft hervor, dass 48% sich (eher) gegen COVID-19 impfen lassen würden, Tendenz seit April kontinuierlich fallend. Beim medizinischen Personal ist die Impfbereitschaft laut der Befragung tendenziell sogar etwas geringer als in der Allgemeinbevölkerung.
Gut möglich, dass die Impf-Priorisierung letztendlich eine kleinere Rolle spielen könnte als gedacht.
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