Bei Notarzteinsätzen fahren wir inzwischen regelhaft weit entfernte Kliniken an. Durch Corona spitzt sich die Lage zu. Für die Versorgung eines Herzinfarkts kann das fatal sein.
Bei einem Notarzt-Einsatz fängt die Suche nach einem Intensivbett meistens schon draußen an, in der Präklinik, im Rettungsdienst. Erfüllt ein Patient eine oder mehrere Bedingungen für eine Aufnahme auf die Intensivstation (Lebensgefahr, z.B. durch absehbare Beatmungspflichtigkeit, Kreislaufschwäche mit Notwendigkeit einer Kreislaufunterstützung usw.) wird die Leitstelle kontaktiert und gefragt, welche Klinik in der Umgebung ein freies Intensivbett hat. Die Leitstelle weist dann die nächste Klinik mit einem freien Intensivbett zu. Wir fahren jetzt schon regelhaft nicht mehr die nächste, sondern in der Regel deutlich weiter entfernte Kliniken an. Überflüßig zu erwähnen, dass jede Verzögerung einer adäquaten Intensivtherapie mit einer konkreten Gefahr für den erkrankten Patienten verbunden ist.
Warum? Hier ein beispielhafter Fall: Herr Behrens erleidet einen Herzinfarkt. Die nächstgelegene Klinik wäre in 10 Minuten erreichbar, diese hat einen Katheterplatz und auch eine Intensivstation, aber kein freies Bett mehr. Also wird Herr Behrens 50 Minuten lang in die deutlich weiter entfernte Klinik gefahren und dort behandelt.
In der Klinik gelingt die Wiedereröffnung des verstopften Herzkranzgefäßs. Aufgrund der verspäteten Behandlung sind aber bereits größere Teile des Herzmuskels abgestorben. Trotz initial erfolgreicher Therapie zeigt sich in den nächsten Tagen, dass eine zu große Fläche des Herzmuskels durch den zu spät behandelten Herzinfarkt abgestorben ist. Der Patient zeigt Zeichen einer schweren Herzinsuffizienz, kann aber mit kreislaufunterstützenden Medikamenten auf der Intensivstation eingestellt werden und nach 10 Tagen auf der Intensivstation und weiteren zwei Wochen auf der Normalstation entlassen werden.
In den nächsten Monaten kommt es wiederholt zu kardialen Dekompensationen, also einer akuten Herzschwäche mit Ansammlung von Flüssigkeit in den Beinen und in der Lunge. Die Abstände zwischen den Krankenhausaufenthalten werden kürzer, die Zeit, die der Patient zu Hause verbringt auch.
Aufgrund erneuter Komplikationen verstirbt der Patient etwa ein Jahr nach dem ersten Herzinfarkt im kardiogenen Schock.
Das ist ein exemplarischer, aber typischer Verlauf, wenn man einen Herzinfarkt nicht sofort und so schnell wie möglich behandelt. Die initiale Verzögerung kann auf lange Sicht zwischen Lebensmonaten oder Lebensjahren entscheiden. Durch eine schnellere Therapie hätte der Patient eventuell auch nur einen kleineren Schaden am Herzmuskel erlitten und wäre statt 10 Tagen nur eine Nacht auf der Intensivstation zur Überwachung geblieben, so wie die meisten unserer Herzinfarktpatienten.
Dieses Szenario lässt sich so auch auf Schlaganfälle, Schwerverletzte („Traumatourismus“) und andere Erkrankungen übertragen. Die Verspätung einer Therapie hat massive Konsequenzen für den Patienten, die nicht unmittelbar erkennbar sind. Die Patienten sterben in der Regel nicht auf dem Weg zu der weiter entfernten Klinik und auch nicht kurz danach, sondern erst Tage, Wochen oder Monate später. Niemand bringt dann den (zu frühen) Tod mit der verspäteten Therapie in Verbindung.
Was mache ich also als Intensivmediziner, wenn meine Station „voll“ ist und ein weiterer Patient angekündigt wird?
Eine Option wäre es, die neu intensivpflichtigen Patienten nicht anzunehmen. Klingt so einfach, bedeutet aber unter Umständen, dass diese Patienten durch die verzögerte Therapie oder den Transport Schaden nehmen, wie beschrieben. Alternativ kann man versuchen eigene Intensivpatienten auf die Intensivstation einer anderen Klinik zu verlegen. Man muss aber erstmal eine andere Klinik finden, die einem einen stationären (= bereits versorgten) Patienten abnimmt. Da kann man ganz locker mal mehrere Stunden Telefonate investieren.
Eine Klinik, die im Leitstellensystem auf „grün“ steht, muss nicht zwingend einen Patienten aufnehmen, der aus einer anderen Klinik kommt. Die Verlegung ist sowieso nur selten eine echte Option. Der Patient muss stabil genug für einen unter Umständen längeren (Intensiv)-Transport sein. Der potenzielle Schaden durch den Transport sollte nicht größer sein als die potenzielle Gefahr durch die Verlegung auf die Normalstation. Außerdem kann man beispielsweise einen neurochirurgischen Patienten, der vor ein paar Tagen am Kopf operiert wurde, nicht ohne Weiteres in eine Klinik verlegen, die gar keine Neurochirurgie hat. Es gibt noch viele weitere Probleme, die es oft trotz aller Widerstände sinnvoller machen, ein Bett dadurch zu schaffen, einen eigenen Patienten auf die Normalstation zu verlegen.
Macht man das unter dem Druck zunehmend kranker Patienten weiter, steigt sowohl die Behandlungsintensität des einzelnen Intensivpatienten (geringerer Anteil moderat Erkrankter, höherer Anteil schwerkranker Patienten) als auch der Workload einer jeden Pflegekraft. Während eine Intensivpflegekraft in Ausnahmefällen auch mal einen sehr kranken und zwei mäßig kranke Intensivpatienten versorgen kann, ist auch die beste Pflegekraft bei drei maximal kranken Intensivpatienten überfordert. Das hatte ich in meinem leztzten Artikel bereits näher ausgeführt.
Ich hoffe, Folgendes ist klar geworden: Man kann drei Patienten oder drei Patienten betreuen. Und eine Intensivstation kann mit 20 überwiegend gelben und orangenen Patienten oder mit 20 roten Patienten voll sein. Wie es einer Intensivstation geht, hängt also nicht nur von der Anzahl der belegten Betten ab. Vor allem die Anzahl der Pflegekräfte und der Zustand der Patienten ist entscheidend. COVID-19-Patienten sind besonders pflegeaufwändig. Die Patienten zeichnen sich durch eine erhebliche Kreislaufinstabilität und komplexe Beatmung aus. Außerdem müssen diese Patienten während der kritischsten Phasen auf den Bauch gedreht werden – eine komplexe Aufgabe, die mit Vor- und Nachbereitung für eine Pflegekraft pro Patient zwei Stunden Arbeit bedeuten kann. Ob eine Intensivstation noch einen Patienten versorgen kann, ist also von den Patienten, von den vorhandenen Pflegekräften (und Ärzten) vom Zu- und Abstrom und von vielen weiteren Faktoren abhängig.
Aktuell (Stand 22. Dezember 2020) gibt es in Deutschland ca. 2.000 Kliniken und ca. 4.800 freie Intensivbetten. Das bedeutet rein rechnerisch weniger als drei freie Intensivbetten pro Klinik. Jeder in der Präklinik tätige Notarzt oder Notfallsanitäter weiß um den Unsinn solcher Zahlen.
Was auch immer der Grund für die fehlerhaften Angaben im DIVI-Intensivregister sind, sie stimmen einfach nicht mit der Realität überein. Es muss da ein massives Defizit in der Datenerfassung oder in den Angaben der meldenden Kliniken geben. Wir fahren mittlerweile regelhaft dutzende Kilometer bis zum nächsten freien Intensivbett, oft gibt es von 16 Kliniken im Landkreis nur noch eine Klinik mit freiem Bett. Man möge mir gerne widersprechen, aber die Realität scheint eine andere zu sein als es Schlagzeilen wie „20 % freie Intensivbetten“ vorgaukeln. Das kann ich und niemand, der im Krankenhaus oder im Rettungsdienst arbeitet, ernst nehmen.
Selbst wenn im DIVI-Register die Ampel auf „grün“ steht, sind die meisten Intensivstationen bereits seit Wochen auf dunkelrot. Und das obwohl es vielleicht noch ein freies Bett gibt.
Bildquelle: Daniele Franchi, unsplash