Es gibt sie, diese Tage, an denen die Motivation wie wegeblasen scheint. Genau der richtige Zeitpunkt, sich an die guten Momente zu erinnern – warum ich Ärztin geworden bin.
Das Spannende an einer Tätigkeit im Gesundheitswesen ist, dass man mit Ausnahmesituationen konfrontiert wird. Kaum ein Arbeitstag gleicht dem anderen und man steht plötzlich, ob man will oder nicht, vor menschlichen Schicksalen, schwersten Entscheidungsnöten und unfassbarem Leid. Manche Geschichten verschlagen einem buchstäblich den Atem, so wie diese.
Meine Patientin, 39 Jahre alt und stets fröhlich bei unseren bisherigen Begegnungen, strahlt noch mehr als sonst. Sie hat allen Grund dafür, denn nach zwei frustranen IVF-Therapien hat es endlich geklappt. Zu Hause war der Schwangerschaftstest positiv, sie ist etwas blass und, aber glücklich. Nach langem Studium, den ersten erfolgreichen Berufsjahren und nun in fester Partnerschaft lebend, ist der Traum einer Familiengründung sehr nahe gerückt.
Ich freue mich mit ihr. Wir besprechen Verhaltensmaßregeln in der Schwangerschaft und stellen fest, dass es außer dem fortgeschrittenen mütterlichen Alter und der IVF-Therapie, keinerlei Risikofaktoren gibt. Dann kommt mit der ersten Ultraschalluntersuchung der spannendste Augenblick unserer heutigen Begegnung.
Auch für mich ist der Ultraschall zu Beginn einer Schwangerschaftsbetreuung immer etwas Besonderes. Handelt es sich um eine intrauterine Schwangerschaft und kann man die kindliche Herzaktion bereits sehen, dann beginnt ab jetzt unsere gemeinsame Reise durch eine hoffentlich schöne und komplikationslose Schwangerschaft. Wir werden uns bei normalem Verlauf nun alle vier Wochen, später alle zwei Wochen, begegnen und damit wächst man auch ein bisschen mehr zusammen als wenn man sich nur einmal pro Jahr zur Vorsorge sieht.
Das Strahlen in den Augen einer Frau, die ihr ungeborenes Kind zum allerersten Mal sieht, macht auch mich jedes Mal ein klein wenig glücklich, trotz der vielen Schwangerschaften, die ich schon begleitet habe. Ein neues Leben ist immer wieder ein Grund zum Staunen. So auch diesmal. Ich gebe noch ein erstes Foto für den werdenden Vater mit und trage einen Normalbefund in die Unterlagen ein. Wir vereinbaren einen Routinetermin und die Patientin berichtet mir noch beim Hinausgehen, dass sie gerne aufgrund ihres Alters eine spezielle Ultraschalluntersuchung in einem Zentrum für Pränataldiagnostik in Anspruch nehmen möchte.
Plötzlich ist alles anders: Statt einer optimistischen, starken Frau, sitzt beim nächsten Termin ein Häufchen Elend vor mir. Unter Tränen berichtet sie, dass bei dem speziellen Fehlbildungsultraschal eine Balkenagenesie festgestellt wurde.
Hierbei handelt es sich um eine neuroanatomische Entwicklungsstörung mit einer Inzidenz von etwa 1:4.000 Geburten. Die Folge ist ein partielles oder vollständiges Fehlen der querverlaufenden Faserverbindungen zwischen beiden Hemisphären. In 30–45 % der Fälle werden genetische Ursachen gefunden, davon weisen etwa 10 % der Betroffenen chromosomale Anomalien auf und 20–35 % ein genetisches Syndrom. Auch beim fetalen Alkoholsyndrom kann eine Agenesie des Corpus callosum vorkommen. Es handelt sich entweder um das vollständige Fehlen oder um eine Hypoplasie des Balkens. Diese Anomalie kann isoliert auftreten oder assoziiert sein mit weitern Fehlbildungen des Zentralnervensystems, des Gesichtsschädels oder des kardiovaskulären Systems.
Betroffene Kinder können körperliche und geistige Entwicklungsverzögerungen aufweisen, Spastiken, Epilepsie und Hydrozephalus werden beobachtet. Selten liegt eine Balkenagenesie als einzige Diagnose vor und wird als Zufallsbefund diagnostiziert. Das Leben der Betroffenen kann in diesem Fall symptomlos verlaufen.
Zusammengefasst: Alles ist möglich, von schwerstbehindert bis ein normales, symptomfreies Leben. Abhängig von vielen Untersuchungsbefunden und einer schwerwiegenden Entscheidung.
Von diesem Augenblick an werden Untersuchungen geplant, Vorgehensweisen besprochen und Prognosen abgewogen. Es werden Zweitmeinungen anderer Pränatalzentren eingeholt, Kollegen aus der Pädiatrie befragt, Entwicklungspsychologen interviewt, eine betreuende Hebamme gefunden, die Erfahrungen einer Frühförderstelle und betroffener Eltern einer Selbsthilfegruppe miteinbezogen. Dazwischen finden humangenetische Untersuchungen, weitere Sonographien und ein MRT statt. Die Schwangerschaft an sich verläuft zunächst komplikationslos. Bei jedem Termin reden wir lange und besprechen Ergebnisse.
Die gute Nachricht ist: Außer der Balkenagenesie werden keine weiteren pathologischen Befunde erhoben. Die schlechte Nachricht: Trotzdem kann kein Experte sich festlegen, dass das Kind meiner Patientin eine normale Entwicklung durchlaufen und ein symptomfreies Leben führen wird.
Sie schaut mich mit großen Augen an und sagt: „Ich weiß nicht, was ich eher aushalten kann. Ein Leben mit einem behinderten, vielleicht sogar schwerstbehinderten Kind oder einen Spätabbruch? Und dann noch die Möglichkeit, ein gesundes Kind geschenkt zu bekommen oder es aufgrund der Unsicherheit nicht ausgetragen zu haben? Sagen Sie mir, was soll ich tun?“ Auch der Partner wägt ab und tut sich verständlicherweise schwer mit einer Entscheidung.
In der 34. Schwangerschaftswoche entwickelt sich eine Präeklampsie, die zu einer primären Sectio führt. Das Kind wird sofort pädiatrisch versorgt und in die Kinderklinik verlegt.
Außer einem schriftlichen Entbindungsbericht höre ich zunächst nichts mehr, denke aber immer wieder an die kleine Familie und frage mich, wie es den Dreien wohl geht.
Und dann, Monate später, stehen sie plötzlich kurz vor Weihnachten mitten in der Praxis. Die Kleine betrachtet mit großen Augen die fremde Umgebung, das Mützchen tief in die Stirn gezogen, während ihre Mutter endlich wieder das mir so bekannte Strahlen im Gesicht hat.
„Alle Untersuchungen waren bisher unauffällig und laut dem Oberarzt in der Kinderklinik entwickelt sie sich völlig normal. Natürlich können sich im Verlauf noch andere Befunde ergeben, haben sie uns gesagt, aber im Moment sieht alles sehr positiv aus. Wir sind glücklich und dankbar:“
Dabei sehe ich eine klitzekleine Träne im Augenwinkel meiner Patientin und auch ich muss kurz zur Seite blicken.
Ein Tag, an dem ich froh nach Hause fahre und weiß, warum ich Ärztin geworden bin.
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