In vielen Schlafmitteln ist das eigentlich rezeptpflichtige Melatonin enthalten. Warum sind sie trotzdem als NEM auf dem Markt?
„Im Internet habe ich gelesen, dass Melatonin helfen soll. Haben Sie da Erfahrungswerte?“ So oder ähnlich sprechen mich Kunden in der Apotheke oft an, wenn sie sich ein wirksameres Präparat bei Schlaflosigkeit wünschen. Häufig sind es Frauen. Im Beratungsgespräch wird ihr Leidensdruck deutlich: Der schlechte Schlaf führt dazu, dass sie tagsüber unkonzentrierter und unproduktiver sind.
Doch nicht nur das: Untersuchungen zeigen, dass mangelnder Schlaf in Zusammenhang mit einem erhöhten Risiko für das Auftreten von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Übergewicht steht. Menschen mit Schlafstörungen suchen häufig Rat in der Apotheke. Bis dahin haben sie schon viele Mittel in der Selbstmedikation ausprobiert, beispielsweise H1-Antihistiminika oder pflanzliche Arzneimittel auf Basis von Baldrian, Melisse oder Passionsblume.
Wichtig ist, zunächst zu wissen, was die Substanz überhaupt ist und kann. Melatonin (N-Acetyl-5-methoxytryptamin) ist ein endogenes Hormon, das von der Zirbeldrüse produziert und ausschließlich nachts bzw. bei Dunkelheit freigesetzt wird. Der Höhepunkt der Konzentration wird zwischen 2 und 4 Uhr nachts erreicht. In der zweiten Nachthälfte fällt sie wieder ab, ebenso wie mit zunehmendem Alter. Metabolisiert wird die Substanz zum größten Teil in der Leber über die CYP-Isoenzyme 1A1, 1A2, 2P19 und 1B1.
Melatonin steuert maßgeblich den circadianen Rhythmus und die Synchronisation der inneren Uhr mit dem Tag-Nacht-Zyklus. Den schlaffördernden Eigenschaften werden dabei hauptsächlich die Aktivitäten an den MT1- und MT2-Rezeptoren im Gehirn zugrunde gelegt. Unser Körper gewinnt die Substanz aus Serotonin, das wiederum aus der Aminosäure Tryptophan erhalten wird. Somit ist Melatonin ein Metabolit des Aminosäurestoffwechsels. Eine pharmakologische bzw. metabolische Wirkung der Substanz dürfte daher auf der Hand liegen – egal ob endogen produziert oder exogen zugeführt. Sind wir da nicht schon bei der Definition von Arzneimitteln?
Nach § 2 Arzneimittelgesetz sind Arzneimittel Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen, die zur Anwendung im oder am menschlichen Körper und als Mittel mit Eigenschaften zur Heilung oder Linderung oder zur Verhütung Krankheiten oder krankhafter Beschwerden bestimmt sind. Außerdem dienen sie dazu [die] „physiologischen Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung wiederherzustellen, zu korrigieren oder zu beeinflussen.“ Angesichts der zuvor beschriebenen Wirkungen dürfte das bei exogen zugeführtem Melatonin der Fall sein.
Gemäß der Arzneimittelverschreibungsverordnung unterliegt der Wirkstoff der Rezeptpflicht. Bekannte Vertreter dieser Rubrik sind Circadin-Retardtabletten (2 mg), die zur Kurzzeitbehandlung von Schlafstörungen bei Personen ab 55 Jahren indiziert sind. Außerdem gibt es noch Slenyto (retardiertes Melatonin in zwei Stärken: 1 mg und 5 mg). Das ist ein Arzneimittel, das bei Kindern und Jugendlichen im Alter von zwei bis 18 Jahren mit Autismus-Spektrum-Störung oder Smith-Magenis-Syndrom, einer neurogenetischen Erkrankung, indiziert ist. Beide Präparate verkürzen die Einschlafzeit und verlängern die Schlafdauer.
Auf dem Markt gibt es diverse rezeptfrei erhältliche Präparate wie „Melatonin Einschlaf-Spray“ (Dr. Theiss). Der Hersteller empfiehlt für die Verkürzung der Einschlafzeit ca. 30 Minuten vor dem Schlafengehen zweimal (entsprechen 1 mg Melatonin) direkt in den Mund zu sprühen. Weiterhin gibt es beispielsweise auch die apothekenexklusiven Cefanight Hartkapseln (Cefak) mit 0,5 mg Melatonin je Kapsel. Hier sollen ein bis zwei Kapseln kurz vor dem Schlafengehen eingenommen werden. Bei beiden Produkten handelt es sich um deklarierte Nahrungsergänzungsmittel (NEM) mit einer Tagesdosis von 1 mg.
Ein Blick in die Apothekensoftware und das Internet zeigen daher, dass es trotz der gesetzlich verankerten Verschreibungspflicht für NEM-Hersteller anscheinend kein Hindernis gibt, solche Präparate auf den Markt zu bringen. Ein Grund hierfür dürften die zugelassenen Werbeaussagen der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) für Melatonin sein. Denn nach der Health-Claims-Verordnung sind zwei Wirkungen als Health Claim zugelassen: „Melatonin trägt dazu bei, die Einschlafzeit zu verkürzen“ und „Melatonin trägt zur Linderung der subjektiven Jetlag-Empfindung bei“. Dies machen sich die NEM-Hersteller zunutze.
Das Verwaltungsgericht Köln hatte bereits 2014 entschieden, dass Melatonin in einer Darreichungsform ab 0,5 mg je Einzeldosis als Funktionsarzneimittel zu bewerten sei, unabhängig von den zugelassenen gesundheitsbezogenen Aussagen der EFSA. Dass die Präparate weiterhin auf dem Markt sind, könnte folgenden Grund haben: Ob ein Präparat als Lebensmittel oder Arzneimittel eingestuft wird, entscheidet in erster Linie die zuständige Landesbehörde des jeweiligen Bundeslandes und nicht die Bundesbehörden (Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, BVL; Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, BfArM).
„Dadurch ist immer das jeweilige Bundesland, in dem ein Erzeugnis hergestellt bzw. in den Verkehr gebracht wird, für die Überwachung und die Überprüfung der Verkehrsfähigkeit von Lebensmitteln zuständig. Eine Prüfung der Erzeugnisse durch diese Behörden oder durch das BVL vor dem Inverkehrbringen ist rechtlich jedoch nicht vorgesehen“, schreibt das BVL. Damit die Produkte vom Markt genommen werden, müssten sie daher als Arzneimittel eingestuft werden. Wenn dies nicht getan wird, können die NEM weiterhin ganz legal vertrieben werden.
Ist Melatonin nun zu empfehlen oder nicht? Klassische Schlafmittel aus der Gruppe der Benzodiazepine, Antidepressiva, Antihistaminika und Anxiolytika haben teilweise das Potenzial, eine Abhängigkeit hervorzurufen. Eine exogene Melatonin-Supplementierung hingegen ist gut verträglich und vergleichsweise nebenwirkungsarm. „Melatonin bietet eine alternative Behandlung zu den derzeit verfügbaren pharmazeutischen Therapien für Schlafstörungen mit deutlich weniger Nebenwirkungen“, heißt es in einer Review. Die Arzneiform (retardiert/nicht retardiert) geht aus dieser Empfehlung allerdings nicht hervor.
In der S3-Leitlinie Nicht erholsamer Schlaf/Schlafstörungen wird Melatonin allerdings aufgrund „von geringer Wirksamkeit bei dieser Indikation“ nicht generell zur Behandlung von Insomnien empfohlen. Als individueller Heilversuch dürften die rezeptfreien Präparate legitim sein, da es weitaus gefährlichere Substanzen in der Apotheke gibt, die rezeptfrei erhältlich sind. Ein Arztbesuch sollte dennoch angeraten werden, um die Schlafstörung evident zu behandeln.
Fazit: Insgesamt ist es aus pharmazeutischer und wissenschaftlicher Sicht trotz allem sehr bedenklich, dass solche NEM mit einer nachgewiesenen pharmakologischen Wirkung auf dem Markt legal erhältlich sind.
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