Die Kardiologie hat ein Frauenproblem. Immer mehr Studien zeigen, dass Patientinnen mit Herzinfarkt schlechter abschneiden – auf allen Stufen der Versorgung.
Seit Corona wissen alle, dass Geschlechtsunterschiede für Krankheitsverläufe relevant sein können. Ein Y-Chromosom zu haben ist ungünstig bei der COVID-19-Erkrankung. Beim Herzinfarkt ist es eher umgekehrt. Eine von Dr. Justin Ezekowitz von Universität Alberta geleitete, große kanadische Studie legt jetzt einmal mehr den Finger in die gendermedizinische Wunde. Analysiert wurde eine populationsbasierte Kohorte von Patienten mit erstmaligem Myokardinfarkt zwischen April 2002 und März 2016, insgesamt über 45.000 Patienten, davon knapp ein Drittel Frauen.
Erwartungsgemäß waren die Frauen älter als die Männer, im Median 72 gegenüber 61 Jahre, und sie hatten entsprechend mehr Begleiterkrankungen. Dass es in der nicht adjustierten Analyse hinsichtlich der Prognose des Herzinfarkts Unterschiede bei der Krankenhaussterblichkeit gab, verwundert deswegen gar nicht: Beim ST-Hebungs-Infarkt (STEMI) starben 9,4 % der Frauen und 4,5 % der Männer, beim Nicht-ST-Hebungs-Infarkt (NSTEMI) waren es 4,7 % versus 2,9 %.
Interessanter als diese Rohdaten sind die Ergebnisse nach Adjustierung. Hier verschwindet der Unterschied bei den in der Regel weniger dramatisch verlaufenden, weniger Myokard betreffenden NSTEMI völlig, bleibt aber bei STEMI-Patienten unverändert: Das Risiko, im Krankenhaus zu sterben, ist für Frauen mit STEMI nach allen Adjustierungen für Alter, Begleiterkrankungen und Schweregrad des angiographischen Befunds um knapp die Hälfte höher. Statistisch war das hoch signifikant.
Mehr noch: Auch nach Ende des Krankenhausaufenthalts sah es für die Frauen schlechter aus. Knapp jede vierte Frau mit STEMI entwickelte im Verlauf von fünf Jahren nach dem Infarkt eine Herzinsuffizienz, aber nur jeder sechste bis siebte Mann. In diesem Punkt gab es auch beim NSTEMI einen signifikanten Unterschied zuungunsten der Frauen.
Stellt sich die Frage, was die Gründe für diese Unterschiede sind. Ezekowitz und Kollegen diskutieren mehrere Antworten, legen sich aber letztlich nicht fest. Bei der Auswertung der poststationären Medikation zeigte sich, dass Frauen weniger sekundärpräventive Medikamente erhalten. Das galt mit Ausnahme von ASS für das ganze Spektrum, von Betablockern über RAAS-Hemmstoffe bis Statin und P2Y12-Antagonisten. Im Krankenhaus erhielten Frauen interessanterweise zudem seltener kardiologische Konsile als Männer, unabhängig von der Art des Infarkts.
Die Studie liefert auch Hinweise darauf, dass bei Frauen mit infarktverdächtigen Symptomen später koronarangiographiert wird als bei Männern. Diese Beobachtung gibt es auch aus vielen anderen Ländern. Immerhin: Die Kanadier fanden in ihrer vierzehn Jahre abdeckenden Kohorte zumindest Hinweise darauf, dass die Unterschiede zwischen Mann und Frau mit Herzinfarkt im Laufe der Zeit etwas geringer wurden.
Die jetzt publizierte, kanadische Studie hatte sich auf die Prognose bei Herzinfarkt konzentriert. Ende November wurde bei der virtuellen Tagung American Heart Association eine weitere prospektive Kohortenstudie vorgestellt, die von Prof. Harmony Reynolds von der Grossman School of Medicine in New York geleitete HARP Studie. Auch diese Studie wirft ein Schlaglicht auf die suboptimale Versorgung von Frauen mit Herzinfarkt.
An der multizentrischen HARP-Studie nahmen 301 Frauen mit klinischer und laborchemischer Diagnose eines Myokardinfarkts ohne ST-Hebungen teil. Alle Frauen wurden per Koronarangiographie untersucht, bei 170 fand sich keine höhergradigen Koronarstenose, sodass ein so genannter Myokardinfarkt mit nicht-obstruktiven Koronararterien, ein MINOCA, diagnostiziert wurde. Diese Frauen werden in der klinischen Versorgung nach kurzer Behandlung im Krankenhaus häufig wieder und oft etwas achselzuckend nach Hause geschickt. Die meisten erhalten ein Statin, manche auch ASS, die Arbeitshypothese lautet häufig „Koronarspasmus“.
Die New Yorker haben jetzt bei diesen Patientinnen wann immer möglich sowohl eine optische Kohärenztomographie (OCT) während der Angiographie als auch, im Mittel eine Woche danach, eine kardiale MRT durchgeführt. Bei 46 Prozent jener 145 Frauen, bei denen eine OCT möglich war, fand sich tatsächlich eine angiographisch nicht sichtbare Infarktläsion, meist eine Ruptur eines atherosklerotischen Plaques. Und bei einem Fünftel jener 116 Frauen, bei denen eine Kardio-MRT möglich war, zeigten sich andere Ursachen der klinischen Beschwerden, die nichts mit einer koronaren Herzerkrankung zu tun hatten.
Reynolds wies bei der AHA-Tagung darauf hin, dass die klinischen Konsequenzen aus den in der HARP-Studie demaskierten Versorgungsdefiziten für die Frauen erheblich sein können. Frauen mit „echten“ Infarkten werden unter Umständen mit suboptimaler medikamentöser Therapie nach Hause geschickt. Und auf der anderen Seite wird unter Umständen die komplette Sekundärpräventionspalette verschrieben, obwohl das zugrundeliegende Problem ein völlig anderes ist.
Die beiden erwähnten Studien findet ihr im Text hinterlegt oder hier und hier.
Bildquelle: Robina Weermeijer, unsplash