Wer an Phonagnosie leidet, hat Schwierigkeiten, Menschen an ihrer Stimme zu erkennen. Das betrifft sogar die Stimmen eigener Familienmitglieder. Dieses Phänomen kann bei Schlaganfallpatienten auftreten. Neurologen identifizierten nun erstmals die betroffenen Hirnareale.
Stimmblindheit, auch unter dem Fachbegriff „Phonagnosie“ bekannt, ist eine relativ seltene Störung, die bisher noch wenig erforscht ist. Betroffenen fällt es schwer, die Stimmen von Familienmitgliedern, Freunden und Bekannten zu erkennen. Das ist vor allem am Telefon problematisch, aber auch, wenn Betroffene einem Hörspiel oder einem Gespräch im Nebenraum zuhören. Denn normalerweise verhält man sich einem Freund gegenüber anders als bei einem Unbekannten, und man kann das Gehörte nur dann richtige einordnen, wenn man weiß, wer da gerade spricht. Zum ersten Mal wurde der Begriff im Jahr 1982 von Neurowissenschaftern in den USA gebraucht. Die bisherige Forschung hat gezeigt, dass Stimmblindheit häufig in Folge einer Hirnschädigung auftritt – in einigen Fällen ist sie aber auch angeboren. Die Betroffenen haben in diesem Fall keine neurologische Erkrankung oder Hirnschädigung und besitzen ein normales Gehör. So beschrieb die britische Forscherin Lucia Garrido 2009 eine Patientin mit angeborener Phonagnosie, die selbst die Stimme ihrer Tochter am Telefon nicht erkannte. Außerdem war sie nicht fähig, aus den Medien bekannte Stimmen von unbekannten Stimmen zu unterscheiden. Dagegen können Patienten mit Phonagnosie anhand der Stimme durchaus einschätzen, ob jemand fröhlich, traurig oder wütend ist. Ein Team vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig hat sich in mehreren großen Studien mit den Ursachen des eigenartigen Phänomens beschäftigt. In einer dieser Studien untersuchten die Forscher 58 Patienten mit Hirnverletzungen und stellten dabei fest, dass Stimmblindheit mit der Schädigung einer Region im rechten Schläfenlappen, dem so genannten hinteren Gyrus temporalis superior, zusammenhängt. So konnten besonders Patienten mit Schädigungen in diesem Bereich Stimmen schlechter erkennen. Rechte Seite des Gehirns und seine Areale zur Stimmerkennung (mit Blickrichtung nach rechts): hinterer Gyrus temporalis superior, Teil des rechten Schläfenlappens. © MPI CBS
„Anhand von Untersuchungen an Patienten mit Hirnverletzungen lassen sich sehr zuverlässige Aussagen über die Funktion von Gehirnbereichen treffen“, erläutert Claudia Roswandowitz, Erstautorin der Studie. „Ist ein bestimmter Bereich im Gehirn verletzt und fällt dadurch eine bestimmte Fähigkeit aus, lässt sich beides einander zuordnen.“ Die Forscher nehmen deshalb an, dass der hintere Gyrus temporalis superior für das Erkennen von Stimmen unerlässlich ist. In einer vorangegangenen Studie hatten die Wissenschaftler um Roswandowitz bereits zwei Betroffene mit angeborener Phonagnosie untersucht – die beiden einzigen bekannten Fälle in Deutschland. Auch hier stellte das Team fest, dass Stimmblindheit mit Veränderungen im rechten Schläfenlappen zusammenhängt. Zwar lagen bei beiden Betroffenen keine Schädigungen in dieser Gehirnregion vor, es ließ sich aber eine abweichende Gehirnaktivität feststellen. Gleichzeitig beobachteten die Forscher bei den zwei Patienten verschiedene Unterformen der Phonagnosie: Eine Probandin kann in seltenen Fällen zwar einer Stimme ein Gesicht oder einen Namen zuordnen, ist aber nicht in der Lage, zwei unbekannte Stimmen nicht voneinander zu unterscheiden. Der zweite Proband kann dagegen zwar Stimmen voneinander unterscheiden, hat aber große Schwierigkeiten, mit einer Stimme ein Gesicht, einen Namen oder andere persönliche Informationen zu verknüpfen.
„Diese beiden Unterformen der Phonagnosie belegen, dass sowohl die Wahrnehmung der Stimme als auch die Assoziation weiterer Informationen mit der Stimme für die Stimmerkennung wichtig sind“, erklärt Roswandowitz. „Fällt eine der beiden Komponenten aus, tritt die Phonagnosie auf.“ Insgesamt berichteten neun Prozent der Patienten mit Hirnschädigungen in der ersten Studie über deutliche Schwierigkeiten beim Erkennen von Stimmen. Dabei trat die Störung vor allem nach einem Schlaganfall relativ häufig auf. „Wir gehen davon aus, dass es zwischen zwei und drei Prozent der Bevölkerung schwer fällt, Personen anhand ihrer Stimme zu identifizieren“, sagt Katharina von Kriegstein, Seniorautorin der beiden Studien. Dennoch sei die Phonagnosie im medizinischen Bereich bisher kaum bekannt, so Roswandowitz. „Hier müssen wir zu einer höheren Sensibilität gelangen“, betont die Forscherin. Die neuen Ergebnisse könnten auch die Grundlage sein, um wirksame Therapien für die Betroffenen zu entwickeln – oder zumindest hilfreiche Strategien, die ihnen helfen, mit dem Defizit umzugehen. „Was ihnen hilft, sind Kompensationsstrategien“, erläutert Roswandowitz. So können sie am Telefon beispielsweise darauf achten, wie der Anrufer spricht, ob er auffälligen Akzent oder ein besonderes Lachen hat. „Sie könnten auch versuchen, über den Inhalt des Gesprochenen auf die Identität zu schließen“, sagt die Forscherin. „Oder sie können direkt fragen, mit wem sie denn da sprechen.“