Bis zu 80 Prozent Rx-Boni sollen Kunden beim neuen Apothekendienst von Amazon in den USA bekommen. Ich finde, wir können viel aus der Strategie des Unternehmens lernen.
Das war absehbar: Bereits im Jahr 2018 hat Amazon die Online-Apotheke „Pillpack“ geschluckt. Jetzt wird Amazon selbst zur Apotheke. Auf der Webseite Amazon Pharmacy können Kunden aus US-Bundesstaaten Medikamente bestellen.
Geködert werden sie mit Preisvergleichen und Rabatten, wie das Handelsblatt schreibt. Es soll Rx-Boni von bis zu 80 Prozent auf Generika und von bis zu 40 Prozent auf Originalpräparate geben.
Der übliche Aufschrei ließ in Deutschland nicht lange auf sich warten. Einmal mehr scheint die Welt unterzugehen. Anstatt zu jammern wäre es allerdings sinnvoller, sich intensiv mit den Stärken von Amazon zu befassen.
Amazon ist nicht mit Arzneimitteln groß geworden, sondern mit nahezu allen anderen Artikeln – und nicht immer zu günstigen Preisen. Aber selbst die obskursten Einzelteile, wie etwa ein spezielles Computer-Bauteil, lassen sich dort bestellen und werden bis an die Haustüre geliefert – meist sogar am nächsten Tag.
Kunden vorzuwerfen, das zu nutzen anstatt tagelang ihren regionalen Einzelhandel abzugrasen, geht an der Lebenswirklichkeit vorbei. Das haben öffentliche Apotheken erst kürzlich schmerzhaft lernen müssen. Seit der Pandemie bieten viele von ihnen Lieferservices an, nachdem sich viele von ihnen jahrelang dagegen gesträubt haben.
Auch hinter Pillpack verbirgt sich ein besonderer Service-Aspekt: Chronisch kranke, ambulante Patienten erhalten ihre Arzneimittel verblistert. Das mag deutschen Apothekern nur ein müdes Gähnen entlocken. Tatsache ist aber: Apotheken bieten derzeit Verblisterungen vor allem Patienten in Pflegeheimen an oder Patienten, die von Pflegediensten betreut werden. Aber auch sonstige Menschen mit Polymedikation würden von der Verblisterung profitieren. Hier könnte man auch über Selbstzahler-Leistungen nachdenken. Da sollten Apotheker nicht scheu sein, schließlich „IGeLn“ Ärzte seit Jahrzehnten.
Aber reden wir über das Geld. Rx-Boni von 40 bis 80 Prozent sind anders als bei niederländischen Versandapotheken mehr als ein Marketing-Instrument. Dazu ein Blick auf den US-Markt: Trotz „Obamacare“ gibt es immer noch Menschen mit hoher Eigenbeteiligung oder ganz ohne Versicherungsschutz. Für sie sind Rx-Boni im wahrsten Sinne des Wortes lebensnotwendig, weil sie sich ihre eigenen Therapien kaum leisten können.
Das mag so mancher deutsche GKV-Patient mit überschaubaren Zuzahlungen schnell vergessen. Für PKV-Versicherte mit hohem Selbstbehalt könnte das Modell aber durchaus interessant sein.
Wir denken nur an öffentliche Apotheken, übersehen aber eine entscheidende Sache: Amazon könnte nämlich etwas schaffen, das Europa nie versucht hat: Die Rede ist von Pharma Benefit Managern (PBM).
Diese PBMs handeln im Auftrag von Unternehmen (z.B. Krankenkassen) mit Herstellern Preise aus. So bestimmen sie darüber, in welchen Apotheken welche Arzneimittel zu welchem Preis verfügbar sind. Sie bringen durch die US-weite Präsenz eine kritische Masse mit und können Firmen damit unter Druck setzen.
Würde eine zentrale Stelle wie etwa die europäische Arzneimittelagentur (EMA) für alle Mitgliedsstaaten solche Gesprächsverhandlungen über Rx-Preise führen, hätten wir vielleicht schon bald vernünftigere Kosten. Mondpreise von zehntausenden bis hunderttausenden Euro und mehr für eine Therapie sind bei begrenzten Ressourcen kaum zu rechtfertigen.
Der Vorstoß von Amazon wirft eine weitere Frage auf: Brauchen wir pharmazeutische Großhändler wirklich? Derzeit ja; mit einer zentralen Infrastruktur und mit eigenen Lagern, wie sie Amazon hat, aber kaum noch. Auch das Geschäftsmodell von Reimporteuren könnte schnell ins Wanken geraten.
Man mag sich zu Recht oder Unrecht über Amazon ärgern. Der Vorstoß zeigt für mich aber auch: Deutschlands Schutzschirme für Apotheken wie die Rx-Preisbindung oder die Beschränkung von Filialverbünden auf maximal vier Betriebsstätten sind keine Naturgesetze. Sie können perspektivisch von jeder Regierung gekippt werden.
Das heißt: Beratung muss zur honorierbaren Kernleistung werden; am HV-Tisch, aber auch über digitale Kanäle. Das ist berufspolitisch eine Mammutaufgabe, würde Apotheken aber eher die Zukunft sichern als an Gesetzen festzuhalten, die schnell mal wackeln können.
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