Ein Abschalten der zellulären Müllabfuhr führt im Hirn nicht etwa zu einer gesteigerten Proteinablagerung. Stattdessen fanden Forscher erhöhte Mengen des endoplasmatischen Retikulums – was zu einer fatalen Übererregbarkeit der Nervenzellen führt.
Autophagie scheint die Nervenzellen im Gehirn zu schützen, doch offenbar aus ganz anderen Gründen als bislang angenommen, wie Forscher vom Leibniz-Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie (FMP) und der Charité jetzt zeigten. Schalteten sie die zelluläre Müllabfuhr aus, wurden statt der vermuteten Proteinablagerungen erhöhte Mengen des endoplasmatischen Retikulums gefunden. Dies führte zu einer vermehrten Freisetzung von Neurotransmittern und letztlich zu einer fatalen Übererregbarkeit der Nervenzellen. Diese Erkenntnisse wurden jetzt im Fachmagazin Neuron veröffentlicht.
Die Autophagie nimmt eine Schlüsselrolle für die Gesunderhaltung unserer Zellen ein. Mit Hilfe der sogenannten Autophagosomen werden zum Beispiel beschädigte Eiweißmoleküle oder ganze Organellen wie defekte Mitochondrien abgebaut und deren Bestandteile recycelt. Insbesondere für Nervenzellen im Gehirn, die uns während unseres gesamten Lebens dienen, ist dieser Reinigungsmechanismus wichtig, um Eiweißverklumpungen, wie sie bei neurodegenerativen Erkrankungen entstehen, zu verhindern. Die neuroprotektiven Effekte der Autophagie wurden mittlerweile durch zahlreiche Experimente in Modellorganismen belegt.
Allerdings könnte die schützende Wirkung ganz andere Ursachen haben, als bislang vermutet. Prof. Volker Haucke vom FMP und seine Arbeitsgruppe sind jetzt zu ganz neuen Erkenntnissen gekommen, indem sie die Rolle der Autophagie im zentralen Nervensystem junger, gesunder Mäuse untersuchten.Mit einem genetischen Trick schalteten die Forscher zunächst ein Gen aus, das essentiell für die Autophagie ist, und analysierten dann den Proteingehalt der Nervenzellen mittels Proteomics. Doch Proteine, von denen spekuliert wurde, dass sie vornehmlich über Autophagie abgebaut werden, waren in den Neuronen gar nicht angereichert – obwohl dies zu erwarten gewesen wäre.„Das hat uns wirklich sehr überrascht, aber fast noch überraschender war, was wir stattdessen in den Nervenzellen vorgefunden haben“, sagt Marijn Kuijpers, Erstautorin der Studie.
Statt der erwarteten Autophagie-Substrate fanden die Forscher ungewöhnlich große Mengen des endoplasmatischen Retikulums in den Axonen der Nervenzellen. Diese Membransäckchen kommen in jeder Zelle vor und dienen unter anderem als größter intrazellulärer Kalziumspeicher. Die Kalziumregulation wiederum ist für die Erregungsweiterleitung im zentralen Nervensystem elementar.
Kommunizieren Nervenzellen miteinander, öffnen sich Kalziumkanäle an den Synapsen, extrazelluläres Kalzium strömt in die Synapse ein und über Botenstoff enthaltende Vesikel werden Neurotransmitter ausgeschüttet. Anschließend wird das eingeströmte Kalzium vom endoplasmatischem Retikulum aufgenommen, kann aber bei Bedarf auch aus dessen Innerem freigesetzt werden.
In Nervenzellen, in denen Autophagie ausgeschaltet war, hatte der Kalziumspeicher des endoplasmatischen Retikulums aber Schaden genommen. Die Forscher konnten zeigen, dass die Kalzium-Pufferfunktion des endoplasmatischen Retikulums nicht mehr richtig funktionierte, so dass in Axonen und an Synapsen erhöhte Kalziumspiegel messbar waren. Diese wiederum verstärkten die Freisetzung des erregenden Botenstoffs Glutamat, was zu einer permanenten Hyperaktivität der Nervenzellen führte.
„Bislang ist man davon ausgegangen, dass weniger Autophagie weniger Freisetzung von Botenstoffen bedeutet. Wir haben nun das genaue Gegenteil gezeigt“, kommentiert Kuijpers die Studienergebnisse. „Nicht zu wenige, sondern zu viele Botenstoffe sind das Problem. Dadurch werden Nervenzellen weniger plastisch und wir vermuten, dass sie letztlich an Übererregbarkeit zu Grunde gehen", ergänzt Prof. Dietmar Schmitz von der Charité.
Da die Studie ausschließlich mit jungen und gesunden Tieren durchgeführt wurde, sagt sie nichts über die pathologischen Mechanismen etwa bei Alzheimer aus. Aber um die Physiologie der Autophagie grundsätzlich zu verstehen, ist die Arbeit durchaus von Bedeutung. „Alles in allem stellt unsere Entdeckung unser Bild von der Autophagie im zentralen Nervensystem auf eine völlig neue Grundlage“, sagt Haucke. Mit den neuen Erkenntnissen lasse sich beispielsweise gut erklären, warum man im Alter schlechter lernt. „Eine Synapse, die bereits überstimuliert ist, lässt sich nicht weiter hochfahren, die ist sozusagen am Limit und ist darum kaum noch plastisch verstärkbar, eine Grundvoraussetzung des Lernens.“
Mit neuem Verständnis an der Kernfrage des Auslösers forschenOffen bleibt indes die Kernfrage, welche Steuerungsmechanismen die Autophagie in Nervenzellen in Gang setzen. Während in anderen Körperzellen das Nahrungsgebot regulierend wirkt, ist für das zentrale Nervensystem bislang kein Auslöser bekannt. „Wenn wir wüssten, was in den Nervenzellen mehr oder weniger Autophagie erzeugt, wären wir irgendwann in der Lage, auch therapeutisch einzugreifen“, betont Haucke. „Dieses fundamental wichtige Problem wollen wir jetzt weiter verstehen und unsere vorliegende Arbeit liefert uns dafür einen hervorragenden Ausgangspunkt.“
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