Steigende Ausgaben und steigende Beiträge – gesetzliche Krankenversicherungen stehen einmal mehr in der Kritik. Ihre Probleme sind in weiten Teilen hausgemacht: Wer neue Mitglieder über teils fragwürdige Leistungen ködert, muss sich über rote Zahlen nicht wundern.
Die Maschen des sozialen Netzes werden dichter. Schon im Jahr 2013 hatten Regierungsvertreter ein „Gesetz zur Beseitigung sozialer Überforderung bei Beitragsschulden in der Krankenversicherung“ paraphiert. Ihr Ziel: eine Stichtagsregelung, um Patienten von Altbeträgen und Säumniszuschlägen zu befreien. Zwar nutzten mehr als 60.000 Menschen die Gunst der Stunde, um neu in die GKV oder PKV zu wechseln. An Brisanz hat das Thema aber kaum verloren.
Wie Ingrid Fischbach (CDU) im Gesundheitsausschuss des Bundestages berichtete, sind immer noch 77.500 Menschen nicht krankenversichert. Als Vergleich gibt die Staatssekretärin rund 188.000 Fälle für 2003 an. Im Jahr 2011 waren es 137.000 Menschen. An und für sich eine erfreuliche Entwicklung – nur hat sich der Personenkreis stark geändert. Waren früher häufig Freiberufler betroffen, sind es Fischbach zufolge heute oft Ausländer, etwa EU-Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien. In vielen Fällen sei die Vorversicherung nicht ohne weiteres zu ermitteln, so Fischbach. Hinzu kommen Asylbewerber und Personen ohne Asylantrag, die sich in Deutschland ausreisepflichtig aufhalten. Nach einer Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) im März 2015 bekommen sie 15 Monate lang eingeschränkten Grundleistungen, etwa zur Akut- und Schmerzversorgung. Danach haben sie Anspruch auf Leistungen gemäß GKV-Niveau. Als weitere Gruppe nennt Fischbach Obdachlose.
Gesetzliche Krankenversicherungen sehen von ihrer Seite aus keinen weiteren Handlungsbedarf bei diesen Menschen. Ihnen geht es um den Markt selbst. Mit Berufung auf ein kürzlich veröffentlichtes Gutachten des Berliner IGES-Instituts fordern sie mehr Wettbewerb. Das Institut analysierte im Auftrag der DAK-Gesundheit Schwachstellen und Hemmnisse im bestehenden System und zeigt Reformoptionen auf. DAK-Vorstandschef Herbert Rebscher spricht von „fehlsteuernden Anreizstrukturen im System“ und will Alternativen aufzeigen. Wettbewerb sei kein Selbstzweck, sondern müsse die Suche nach besseren Versorgungsverträgen zum Ziel haben. Rebscher kritisiert den „reinen Preiswettkampf“, der vor allem gesunden, jungen Versicherten Anreize biete, Geld zu sparen – und das Sozialsystem schwäche. Von Individualtarifen und „medizinisch teils fragwürdigen Satzungsleistungen“ hält er nichts. Die Alternative: ein neues Wettbewerbskonzept über Qualität und Effizienz der Versorgung. Ein Schritt weiter: Laut IGES-Institut machen spezielle Budgets zur Erforschung und Entwicklung innovativer Behandlungsprozesse Sinn. Die Größenordnung: etwa 0,5 Prozent des Beitragsaufkommens, immerhin mehr als 900 Millionen Euro. Wissenschaftliche Publikationen und die Evaluation entsprechender Projekte wären ebenfalls verpflichtend.
Aus Sicht von Patienten ist das Konzept umstritten – vor allem unter ökonomischen Gesichtspunkten. Professor Dr. Jürgen Wasem vom Lehrstuhl für Medizinmanagement, Universität Duisburg-Essen, sprach bereits im März warnende Worte. Der Experte befürchtet steigende Beiträge. Rund 0,3 Prozentpunkte sollen es allein in 2016 sein. Wie das Bundesministerium für Gesundheit berichtet, standen im letzten Jahr Einnahmen von 204,24 Milliarden Euro Ausgaben von 205,54 Milliarden gegenüber – ein Verlust von 1,3 Milliarden. Die Tendenz setzte sich aktuellen Quartalsberichten zufolge fort. Ende des ersten Quartals 2015 standen Einnahmen von rund 53,08 Milliarden Euro Ausgaben von rund 53,25 Milliarden Euro gegenüber. Hinter den Zahlen stecken mehrere Phänomene. Steigende Löhne und Gehälter bescherten Kassen ein Plus von 3,8 Prozent. Zeitgleich stiegen die Ausgaben pro Person um 4,2 Prozent, gemessen am Vergleichszeitraum 2014. Auf der Kostenseite schlugen Arzneimittel mit plus 5,0 Prozent zu Buche, gefolgt von vertragsärztlichen Behandlungen (plus 4,0 Prozent) und Krankenhausbehandlungen (plus 3,2 Prozent). Beim Krankengeld waren es sogar plus 8,2 Prozent. Auch verzichteten viele Versicherungen auf den vollen Zusatzbetrag von 0,9 Prozentpunkten, um Versicherte zu ködern. Hier lag der Schnitt bei 0,83 Prozent.
Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) bleibt indes gelassen. Mit Hinweis auf 25,3 Milliarden Euro Finanzreserven spricht er von einer „soliden Grundlage“. Damit nicht genug: Der Christdemokrat hat Vorwürfe gesetzlicher Krankenkassen zurückgewiesen, mit Strukturreformen höhere Beiträge zu verschulden. GKVen hatten kritisiert, dass der Umbau der ambulanten Versorgung und die Krankenhausreform nur über Zusatzbeiträge finanzierbar wären. „Wir haben die nachhaltige Finanzierbarkeit im Blick“, entgegnete Gröhe. Von den letzten Reformen hätten Versicherte sogar profitiert. Der Disput geht in die nächste Runde.