Deutschlands Intensivstationen scheinen sich langsamer zu füllen als befürchtet. Wie sieht es in Deutschlands Kliniken wirklich aus? Der Status Quo aus Sicht von Intensivmedizinern.
Noch scheinen sich Intensivstationen in Deutschland weniger schnell zu füllen als befürchtet, wie Zahlen des DIVI-Intensivregisters zeigen. Tägliche Neuaufnahmen nehmen seit der Woche ab dem 26. Oktober im Vergleich zur Vorwoche tendenziell ab. Auch das Wachstum der Gesamtzahl an COVID-19-Patienten auf Intensivstationen nimmt ab dem 2. November ab.
Der wöchentliche Anstieg bei COVID-bedingten belegten Intensivbetten machte am 26. Oktober rund 65 Prozent aus, am 10. November waren es rund 30 Prozent. Dementsprechend füllen sich die Intensivstationen stetig weiter, aber in niedrigerer Geschwindigkeit als befürchtet.
Es gibt unterschiedliche Gründe, die für diese Entwicklung verantwortlich sein könnten sowie Faktoren, die das Wachstum der Patientenzahlen auf Intensivstationen auch wieder beschleunigen könnten. Wie schätzen Intensivmediziner daher die aktuelle Lage ein?
„Insgesamt halte ich es noch für verfrüht, finale Schlüsse aus den kurzfristig sichtbaren rückläufigen Intensivbelegungszahlen für COVID-19-Patienten zu ziehen“, sagt Prof. Dr. Clemens Wendtner, Chefarzt der Infektiologie und Tropenmedizin sowie Leiter der Spezialeinheit für hochansteckende lebensbedrohliche Infektionen an der Klinik Schwabing in München. „Es bleibt festzuhalten, dass lediglich die Zuwachsrate an intensivpflichtigen COVID-19-Patienten im Tagesverlauf ein wenig abnimmt, wir aber immer noch absolut betrachtet einen Anstieg der Patienten auf Intensivstationen in Deutschland registrieren. Auf dem Niveau der Normalstationen gibt es noch keine Trendwende, das heißt, dort steigen die Zahlen der zu versorgenden Patienten kontinuierlich an.“
Die rückläufigen Wachstumszahlen der Intensivbelegungen auf die aktuelle Lockdown-Situation zurückzuführen, hält Wendtner für verfrüht, „da wir bei COVID-19 mit Erkrankungsbeginn circa drei bis vier Wochen Latenzzeit bis zur intensivmedizinischen Betreuung einrechnen müssen.”
Dass die Gesamtzahl der COVID-19-Patienten auf den Intensivstationen nicht mehr so schnell ansteigt, liege unter anderem auch daran, „dass es ja inzwischen auch schon wieder Entlassungen gibt. Das war beim initialen Anstieg der Patientenzahlen auf Intensivstationen anders, da es noch kaum zu entlassende Patienten gab”, argumentiert Prof. Dr. Reinhard Busse, Leiter des Fachgebiets Management im Gesundheitswesen an der Technischen Universität Berlin.
„Ich habe den Eindruck, dass wir an der Uniklinik Köln im Gegensatz zur ersten Welle deutlich mehr Fälle auf der Normalstation haben“, so PD Dr. Matthias Kochanek, Leiter der internistischen Intensivmedizin an der Uniklinik Köln. „Mein persönlicher Eindruck ist auch, dass die Zeit von der Infektion bis zur Intensivstation etwas kürzer ist als im Frühjahr. Mit dem Wirkstoff Dexamethason habe ich zudem den Eindruck, dass die Zeit auf der Intensivstation etwas verkürzt ist. Aber es ist sicher zu früh, aus den aktuellen Zahlen sichere Schlüsse zu ziehen.“
Wie der Status Quo tatsächlich sei, könne man nicht aufs Bett genau sagen, glaubt Kochanek. „Ich persönlich glaube auch, dass die Zahlen des DIVI-Registers um bis zu 20 Prozent daneben liegen können – zum Beispiel bei der Anzahl der freien Betten beziehungsweise Beatmungsbetten. Schaut man sich die Krankenhäuser alleine hier in Köln an, so werden zum Beispiel zwei freie Intensivbetten gemeldet, aber fünf freie Beatmungsmöglichkeiten.“
Es gehe nicht um das Freihalten von Betten, sondern um den sinnvollen Einsatz vorhandener Ressourcen, betont Prof. Dr. Uwe Janssens,Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). „Das allgemeine Notfallgeschäft und die tatsächliche Anzahl der schwer erkrankten COVID-19-Patienten kann man nicht exakt im Voraus planen. Es handelt sich dabei immer um grobe Abschätzungen, die in die eine oder auch in die andere Richtung laufen können. Um einen Puffer auf den Intensivstationen zu haben, benötigen wir tatsächlich eine Reservekapazität, die unmittelbar verfügbar sein muss – und nicht erst in sieben Tagen.“ Die Sieben-Tages-Reserve sei ausreichend mit über 12.000 Intensivbetten bestückt. „Diese können aber nicht ad hoc betrieben werden, da für diese Betten kein Personal zur Verfügung steht.“
Eine Frage beherrscht die derzeitige Diskussion: Sollen Kliniken vom Regelbetrieb in den Pandemie-Modus wechseln – ja oder nein?
„Ein Regelbetrieb in Häusern der Maximalversorgung ist mit jedem Tag weniger möglich und die Vorstellung, dass Betten leer stehen oder künstlich freigehalten werden müssten, ist irreführend“, beschreibt Wendtner die derzeitige Situation in vielen Kliniken. Es sei zu bedenken, „dass die Krankenhäuser sowohl schwerkranke COVID-19-Patienten als auch schwerkranke Non-COVID-19-Patienten behandeln. Der Anteil der Patienten ohne COVID-19 ist deutlich höher“, so Janssens.
Trotzdem sei in einigen Regionen per Verordnung oder aus Eigeninitiative schon ein Übergang auf den sogenannten Notfallbetrieb erfolgt. „Auch die Uniklinik Düsseldorf musste in der vergangenen Woche auf Notfallbetrieb umstellen und alle elektiven Aufnahmen und Eingriffe vorübergehend stoppen. Für die Regionen und Städte, in denen die Krankenhäuser bereits an die Grenzen ihrer Belastung geraten, sollte aus unserer Sicht jetzt eine Verordnung erfolgen, die die betroffenen Kliniken abgestuft in den Notfallbetrieb versetzt. Dabei nenne ich als Beispiel die Regelungen des Landes Berlin. Damit verbunden sollten auch die finanziellen Kompensationen relativ zügig verbindlich geregelt werden.“
Einfach sei die Frage nicht zu beantworten, sagt Kochanek. Auch er nennt in dem Zusammenhang das Beispiel Berlin und macht einen konkreten Vorschlag: „Wir haben zum Beispiel an der Uniklinik Köln wesentlich weniger elektive Operationen als kleinere Krankenhäuser der Grund- und Regelversorgung. Wenn diese weniger beatmungserfahrenen Krankenhäuser nun zum Beispiel das unkompliziertere ‚Weaning‘ der Patienten übernehmen würden, dann würde das die Intensivstationen der Krankenhäuser der Maximalversorgung entlasten. Diese könnten sich dann verstärkt um Patienten mit schwerem Lungenversagen kümmern.“ Aus vielen Gründen sei dieser Ansatz, bei dem die Kliniken im Pandemiegeschehen unterschiedliche, voneinander abgegrenzte Aufgaben haben – wie in Berlin zum Beispiel umgesetzt – nicht gewollt bzw. nicht mehr umsetzbar oder aufgrund von geographischen Begebenheiten nicht möglich.
Busse hält ein Drei-Stufen-Modell mit neuer Finanzierungsregelung für sinnvoll: „In Kürze kann man sagen, dass an drei Schrauben gedreht werden sollte.
Mit welchen Entwicklungen ist nun in nächster Zeit zu rechnen? „Es muss befürchtet werden, dass auch der Anteil der stationären Behandlungsfälle zunehmen wird – und damit in Konsequenz auch die Zahl der intensivstationären Behandlungsfälle“, sagt Janssens.
Wendtner weist außerdem auf den Faktor Alter hin, der derzeit einen Veränderungsprozess vollzieht und großen Einfluss auf die Versorgungssituation haben könnte: „Aufgrund des zum Teil sehr hohen Alters der Patienten mit über 80 Jahren mit starken Komorbiditäten [werden] nicht mehr alle Patienten intensivmedizinisch versorgt. Das bedeutet konkret, es wird in einzelnen Fällen bewusst eine Therapie-Zieländerung in Richtung palliativmedizinischer Versorgung vorgenommen. Das Problem der limitierten Intensivkapazitäten kann sich also durchaus noch verschärfen, wenn mehr und mehr jüngere Patienten in die Kliniken kommen und letztendlich auch intensivmedizinisch versorgt werden müssen.“
Warnsignale gebe es genug, wenn man den Blick nicht nur auf Deutschland richte: „Die europäischen Nachbarländer sollten uns eine Warnung sein“, findet Wendtner. „Bei ihnen kam es auch zu Beginn nur zu einer langsamen Belegung der Intensivkapazitäten im Spätsommer, bevor das System hinsichtlich der Intensivbetten nunmehr im November überlastet erscheint. Patienten müssen derzeit innerhalb dieser Länder in Regionen mit weniger COVID-19-Belastung oder aber ins europäische Ausland verlegt werden.”
Insgesamt scheinen die Einschätzungen der Experten mehr eine Ruhe vor dem Sturm zu skizzieren als Entwarnung zu geben.
Bildquelle: National Cancer Institute, unsplash