Die Infektionszahlen an den Schulen schnellen in die Höhe. Wie lässt sich das Problem lösen? Lehrer, Eltern, Politiker, Virologen – alle wollen mitreden.
Die Auswirkungen der Corona-Krise sind an deutschen Schulen deutlich spürbar. Die Frage, ob die aktuellen Schutzmaßnahmen ausreichen, drängt, denn: Die Infektionszahlen erkrankter Schüler und Lehrer steigen rasant. Ende September waren rund 50.000 Schüler in Quarantäne, jetzt sind es mehr als 300.000, wie der Deutsche Lehrerverband mitteilt. Zusätzlich sind etwa 30.000 Lehrerinnen und Lehrer zur Zeit von Quarantäne-Maßnahmen betroffen.
Einige Schulen sind inzwischen dazu übergegangen, nicht mehr vollständig im Präsenzunterricht zu unterrichten. Diese Maßnahme haben etwa 3.000 Schulen in Deutschland ergriffen, wie Zeitungen der Funke Mediengruppe berichten. Zur Einordnung: In Deutschland gibt es etwa 40.000 Schulen.
Andernorts gibt es komplette Schulschließungen. „Wir erleben an den Schulen jetzt einen Salami-Lockdown“, sagt Lehrerverbandspräsident Heinz-Peter Meidinger zu Bild. Bereits Anfang November mussten bundesweit 165 Schulen komplett schließen.
Meidinger kritisiert in der Passauer Neuen Presse Versäumnisse beim Corona--Schutz an Schulen. Die aktuellen Maßnahmen reichen für ihn nicht aus: „In fast allen Bundesländern wurden die Hygienestufenpläne, die in den Corona-Hotspots wieder auf halbierte Klassen setzten, außer Kraft gesetzt. Schulen sollen auf Biegen und Brechen offen bleiben.“
Damit Schulschließungen vermieden werden können, müssten „bei exponenziell wachsenden Infektionszahlen die präventiven Vorsichtsmaßnahmen an Schulen hochgefahren werden". Gemeint ist damit neben der Maskenpflicht auch die vorübergehende Wiedereinführung der Abstandsregel. Das würde halbierte Klassen bedeuten sowie Schule im Wechselbetrieb.
Das Robert Koch-Institut (RKI) empfiehlt bereits ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 50 Infektionen auf 100.000 Einwohner eine generelle Maskenpflicht und geteilte Klassen an den Schulen. Dass dies die Bundesländer nicht flächendeckend oder gar nicht umsetzen, steht in der Kritik.
Die Kultusminister halten bislang auch angesichts steigender Coronazahlen an ihrem Kurs fest: Die Schulen sollen – anders als im letzten Lockdown im Frühjahr – möglichst offen bleiben. Die Minister planen derzeit auch nicht, flächendeckend in den Wechselunterricht mit halben Klassen zu gehen. Was sagen Experten dazu?
Vorweg: Welche Rolle die Schule als Übertragungsort in der Pandemie überhaupt einnimmt, ist bisher nicht geklärt. Fest steht, dass Kinder und Jugendliche sich mit SARS-CoV-2 infizieren und auch weitere Menschen anstecken. Sie gelten jedoch nach aktueller Datenlage nicht als größte Anheizer des Pandemieverlaufs, da sie sich scheinbar weniger häufig als Erwachsene infizieren: Je jünger die Kinder, desto weniger scheinen sie für das Virus empfänglich.
Ab einem Alter von etwa 12 bis 14 Jahren unterscheidet sich die Infektionshäufigkeit nicht mehr von der bei Erwachsenen. Die Erhebung verlässlicher Daten wird durch die wahrscheinlich große Zahl asymptomatischer Infektionen bei Kindern und Jugendlichen erschwert.
Prof. Jörg Timm, Virologe am Universitätsklinikum Düsseldorf, geht davon aus, dass infizierte Kinder relevante Überträger sind. Die ausgeschiedenen Virusmengen in den oberen Atemwegen sind bei infizierten Kindern auf einem ähnlichen Niveau wie bei infizierten Erwachsenen. „Damit besteht grundsätzlich die Möglichkeit, dass es zu einer Verbreitung von SARS-CoV-2 auch in Schulen kommt.“
Die jetzt vermehrt beobachteten Ansteckungen bei Schülern müssen aber nicht zwangsläufig in der Schule stattgefunden haben. Auch im privaten Umfeld gibt es Kontakte zwischen Schülern unter geringen Schutzmaßnahmen. Timm geht davon aus, dass während der nächsten Wochen unter den Bedingungen der Kontaktbeschränkungen die Rolle von Schulen für das Infektionsgeschehen klarer wird.
Ob Schulen geschlossen werden sollten oder nicht, macht er davon abhängig, ob dadurch das Infektionsgeschehen in der Bevölkerung insgesamt negativ beeinflusst wird. Dieser Fall tritt ein, wenn die Zahl von gesicherten oder vermuteten Übertragungen in Schulen deutlich zunimmt und eine Infektionskontrolle über die Absonderung von Kontaktpersonen nicht mehr sichergestellt werden kann bei gleichzeitig schlecht kontrolliertem Infektionsgeschehen in der Gesamtbevölkerung.
In diesem Szenario sollte über weitergehende Maßnahmen bis hin zu Schulschließungen nachgedacht werden, so Timm. Diese Maßnahmen sollten sich aber nicht an regionalen Inzidenzen orientieren, „sondern konkret an der Situation in den Schulen festgemacht werden“.
Dr. Folke Brinkmann ist ebenfalls zurückhaltend, was flächendeckende Schulschließungen angeht. Sie arbeitet als Oberärztin für Pädiatrische Pneumologie und Allergologie am Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum.
„Eine komplette Schließung der Schulen hat zwar nach Meta-Analysen auch einen Einfluss auf das Infektionsgeschehen, ist aber weniger effektiv als andere Interventionen“, so Brinkmann. Sie nennt zum Beispiel Reisebeschränkungen oder Begrenzung von Veranstaltungen.
Nach ihrer Einschätzung ist es „gesellschaftspolitisch sinnvoller“, weitere Maßnahmen an den Schulen an das Infektionsgeschehen in den betroffenen Einrichtungen zu koppeln, nicht an das Gesamtgeschehen in der Bevölkerung. Grund dafür ist, dass Grundschulen wahrscheinlich in kleinerem Maße zur Verbreitung der Infektionen beitragen und in den weiterführenden Schulen durch Einhaltung der Hygieneregeln inklusive des Mund-Nasen-Schutzes das Risiko einer Infektion gesenkt werden kann.
Die Trennung von Lerngruppen in Schulen – neben der Umsetzung der AHA-Regeln und regelmäßigem Lüften– ist in ihren Augen für die Schulen eine richtige Maßnahme.
Auch Timm spricht sich für Schulen im Wechselbetrieb aus: „Aus rein infektiologischer Sicht ist die Verkleinerung und Trennung von Lerngruppen in Schulen ebenfalls eine sinnvolle Maßnahme, da sich damit die Zahl der Kontakte und damit die Wahrscheinlichkeit für Übertragungen reduzieren lassen.“
Das Thema Präsenzunterricht hat sich in Nordrhein-Westfalen (NRW) mittlerweile zu einem Zankapfel entwickelt. Angesichts der Infektionszahlen wollten einzelne Schulen bereits Klassen teilen und zeitlich versetzt unterrichten – komplette Schulschließungen sollten so vermieden werden. Dies untersagte das Schulministerium aber. Ein Schulleiter aus Solingen widersetzte sich dem, indem er trotzdem Klassen teilte und widersprach dem Ministerium öffentlich. Der Landtag hat sich gestern (11.November 2020) dazu beraten und einen generellen Wechsel von Präsenz- und Distanzunterricht erneut abgelehnt.
Beschlossen wurde hingegen ein früherer Start in die Weihnachtsferien. Um den Familien ein möglichst unbeschwertes Weihnachtsfest zu ermöglichen, habe man sich dazu entschieden, den 21. und 22. Dezember freizugeben, sagte NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) dem WDR.
Vonseiten der Lehrer gab es dazu Kritik: „Diese Idee ist nicht dienlich“, sagte Sabine Mistler vom Philologenverband. Der Virologe Christian Drosten hält eine kurze Quarantäne vor Weihnachten indes für eine gute Idee. „Und wenn in dieser Woche keiner auch nur die leisesten Symptome kriegt, da ist es doch fast ausgeschlossen, dass irgendwer hier infiziert ist“, sagte er in seinem Podcast vom NDR.
Niedersachsen ist mittlerweile als erstes Bundesland von der Strategie des reinen Präsenzunterricht abgewichen. Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD) kann sich eine landesweite Rückkehr zu einem Wechselbetrieb zwischen Präsenzunterricht und Homeschooling mit geteilten Klassen vorstellen, wie er der Neuen Osnabrücker Zeitung sagte. Nach Angaben des NDR haben 400 von etwa 3.000 Schulen in Niedersachsen Corona-Fälle, rund 130 befinden sich bereits im Wechselunterricht mit halben Klassen.
Der Hamburger CDU-Landeschef Christoph Ploß ruft die Landesregierungen zu mehr Sicherheitsvorkehrungen auf. „Einen fortwährenden Salami-Lockdown, der zu großen Unsicherheiten für Familien führt, darf es nicht geben", sagt er. Alle Klassenräume müssten deswegen schnellstmöglich mit Belüftungsanlagen und Plexiglas-Trennwänden ausgestattet werden.
Lüftungsanlagen in Schulen sind allerdings nur unter bestimmten Bedingungen wirksam. Virologe Timm erklärt: „Aus technischer Sicht gibt es da Lösungen, die theoretisch das Übertragungsrisiko durch Aerosole tatsächlich reduzieren können. Dazu ist ein hoher Luftaustausch notwendig, der bei größeren Räumen wie Klassenzimmern nur durch leistungsstarke und in der Regel eher hochpreisige Geräte erreicht wird.“ Praktische Erfahrungen mit diesen Geräten bezogen auf SARS-CoV-2 gebe es seines Wissens aber noch nicht.
Bildquelle: Ivan Aleksic, unslash