19:10 Uhr, Abendessen mit der Familie. Das Smartphone liegt wie immer auf dem Tisch. Es pingt, das Display geht an, eine Mail vom Chef. Es wird fix geantwortet, nebenbei noch kurz in die Dienstplanung bei WhatsApp geguckt.
Dann schnell Handy weg, Essen weiter reinschaufeln.
Arbeitsrecht macht selten Schlagzeilen. Aber es gibt Ausnahmen: Als BMW verkündete, dass Dienstmails in der Freizeit aufs Stundenkonto gerechnet werden, wars eine Schlagzeile wert. Bei Volkswagen können Emails, die im Urlaub eintrudeln, gelöscht werden lassen. Warum machen die das? Sicher nicht aus Nächstenliebe. Aber welchen Grund haben Sie das zu machen?
Wer ständig erreichbar ist, muss sehr wichtig sein. Wer da raus will, stempelt sich selbst schnell als unwichtig ab. Also machen alle mit, immer schneller, immer länger. Bis zum Burnout. Oder bis zum Tod.
In Japan gibt es dafür sogar einen eigenen Begriff: Karōshi. Tod durch Überarbeiten. Wenn zu viel Arbeit krank macht und viel zu viel Arbeit sogar tötet, dann muss es einen Punkt geben, ab dem es ungesund wird. Diesen Punkt versuchen Konzerne zu erkennen. Sie helfen ihren Mitarbeitern dabei, für sich selbst Grenzen zu erkennen und zu akzeptieren. Sie helfen aber auch, negativen Stress als solchen zu erkennen und ggf. Workarounds anzubieten.
Dahinter steckt eben nicht Nächstenliebe, sondern betriebswirtschaftliche Statistik. Ein kranker Mitarbeiter kostet Geld. Projekte werden verschleppt, müssen unregelmäßig und unvorhersehbar auf andere Mitarbeiter übertragen werden. Das verursacht bei den Kollegen Stress, es entstehen weitere Folgekosten, der Kunde ist verärgert. Betriebswirtschaftlicher Selbstmord. Wenn Unternehmen das erkannt haben und versuchen, ihre Mitarbeiter zu schützen, warum gelingt das so schlecht im Gesundheitswesen?
Wir machen Überstunden ohne Ende, ein Bruchteil davon wird überhaupt erfasst. Seit Jahrzehnten machen wir alle das mit und springen ein, machen zusätzliche Schichten und kompensieren damit Defizite in einem System, das vielleicht schon seit Jahren so nicht mehr zu retten ist. #Pflexit, der Ausstieg aus der Pflege als Ultima Ratio hat einen eigenen Hashtag. Es ist die Notbremse vor dem Burnout.
Wie wir mit diesem Stress und der größtenteils organisatorisch bedingten strukturellen Überforderung umgehen, bleibt uns weitestgehend selbst überlassen. Ich habe Kollegen kennengelernt, die ihren Frust und den Stress mit Alkohohol betäuben. Alkohol ist nur solange Genussmittel wie es um den Geschmack geht. Schon die Freude auf die entspannende Wirkung von 1–2 Gläsern Rotwein gilt als Abhängigkeit.
Von den körperlichen Folgen mal ganz zu schweigen, ist das ein Hilferuf der Psyche. Wir kommen hier tagsüber schon lange nicht mehr klar, aber damit ich den Stress kompensieren kann, gönne ich mir nach 18 Uhr ein paar Gläser zum Runterkommen.
Es wird ein Kult um Gin, Craft Beer und Whiskey gemacht, aber es bleibt Alkohol. Du trinkst ihn vielleicht ein bisschen wegen des Geschmacks, vor allem aber wegen das wohlig warmen Gefühls, das sich von Innen ausbreitet und dich langsam den Stress im OP und den Ärger mit dem Oberarzt wegen des falsch liegenden ZVKs heute vergessen lässt.
Es gibt ein paar betriebsinterne präventive Angebote. Diese werden so gut wie nicht genutzt, finden sie doch zu 100 Prozent in der Freizeit statt, meist abends und unter der Woche. Schichtarbeiter mit Nacht- und Bereitschaftsdiensten haben ein überdurchschnittlich hohes Risiko für eine Überlastung und würden von solchen vorbeugenden Angeboten profitieren.
Für Mitarbeiter im Schicht- und Bereitschaftsdienst sind diese Kurse aber nicht sinnvoll nutzbar, weil jeder zweite Termin durch einen Dienst blockiert ist. Das gilt also eigentlich für alle Mitarbeiter im Krankenhaus. Bis auf die Verwaltung, die haben für gewöhnlich um 16:00 Uhr Feierabend.
Der Arbeitgeber ist fein raus. Die verweisen einfach auf ihre Angebote und dass man ja wirklich schon ganz viel für die geschätzten Mitarbeiter tun würde. Wenn es ihnen ernst damit wäre, dass ihre Mitarbeiter diese Kurse wahrnehmen, dann könnte man Lösungen finden, aber das würde ja Geld kosten.
Eine vollständige und ehrliche Erfassung aller Arbeitszeiten wäre ein erster Schritt. Nicht genommene Pausen, Fortbildungen die am Wochenende stattfinden, die Dienstplanorganisation per Mail und WhatsApp im privaten Umfeld.
Es lohnt sich ein Blick auf Fortbildungsangebote für Ärzte zu werfen: Tagesfortbildungen für Kliniker finden gerne am Samstag statt. In der Freizeit. Unbezahlt und natürlich im privaten PKW, immerhin die Tagungsgebühr wird in den meisten Fällen vom Arbeitgeber übernommen. Es gibt unzählige Bereiche in denen von uns mit völliger Selbstverständlichkeit gefordert wird, private Zeit einzubringen. Ohne diesen Einsatz wäre das ganze System wahrscheinlich schon vor Jahren kollabiert.
Also machen wir immer weiter, irgendwie. Jede Woche kommen jetzt mehr Patienten. Die nächsten Monate werden sehr anstrengend. Ich würde mich freuen, wenn wir unsere Problem jetzt ernst nehmen. Wenn wir ehrlich sagen, wenn es genug ist. Wenn wir die individuelle Grenze des jeweils anderen akzeptieren und nicht mit Härte und Nachdruck noch mehr Einsatz fordern, nur weil unsere eigene Grenze vielleicht etwas höher liegt.
Nach einer Welle von Suiziden unter britischen Pflegekräften hat man eine Arbeitsgruppe gebildet, um die Hintergründe zu untersuchen. Genannt wurden unter anderem folgende Punkte:
Wir werden dazu erzogen, eigene Bedürfnisse hinten anzustellen und das Wohlergehen das Patienten in den Fokus zu stellen. Wir arbeiten ja für eine gute Sache. Der Patient ist von uns abhängig, er braucht unsere Hilfe. Wollen wir ihm die wirklich verwehren, nur weil wir nach 10 Tagen Arbeit mal zwei Tage frei haben wollen? Ein Tag reicht doch. Und es geht ja nur um den einen Dienst heute.
Es erscheint absurd, Mobbing in einem so sozialen Beruf? Aber die Fakten sprechen für sich. In einer britischen Umfrage von 2016, in der angehende Pfleger befragt wurden, gaben 42 Prozent an, im letzten Jahr Mobbing oder Belästigungen ausgesetzt worden zu sein.
Folgen des Personalmangels
Wir predigen es seit Jahren: Der Personalmangel ist schlimm. Niemand will es hören. Warum? Weil es auch so immer irgendwie weiter geht. Ja, unser Krankenhaus würde wahrscheinlich sogar noch mit der Hälfte der Mitarbeitenden funktionieren, die jetzt dort arbeiten. Irgendwie geht es immer. Dann gibt es eben noch mehr Komplikationen, noch mehr gefrustete Mitarbeiter und die Versorgungsqualität wird noch schlechter.
Wie können wir erkennen, wenn es jemandem von unseren Kollegen schlecht geht?
Wir alle können uns an Gespräche und Situationen erinnern, in denen wir auf Kollegen trafen, die ihre Überforderung kund getan haben. Frust gehört manchmal auch dazu, es gibt aber auch Red Flags, bei denen wir aktiv werden müssen. Diese können sein:
Es gibt sicher noch andere Warnzeichen, vielleicht reicht hier auch sowas wie gesunder Menschenverstand. Achtet aufeinander, unterstützt euch gegenseitig und bietet aktiv Hilfe an.
An dieser Stelle sei der Hinweis auf die folgenden großartigen Angebote erlaubt. Nutzt sie frühzeitig, wenn es euch schlecht geht oder wenn ihr Kollegen habt, um die ihr euch Sorgen macht. Ein unabhängiger, objektiver Beobachter kann eine wichtige Hilfe sein.
Telefonseelsorge
Info-Telefon Depression:
Es gibt noch unzählige weitere Hilfsangebote. Ich bin auch drüben bei Twitter (@narkosedoc) und habe dort eine sehr nette Bubble. Ich habe schon ganz konkret erlebt, dass es dort Menschen gibt, die helfen.
Ich habe kein einziges Mal das C-Wort erwähnt, aber das gehört hier noch hin. Die letzten Monate waren für viele eine Tortur. Für manche noch mehr, ich habe zum Beispiel allergrößten Respekt vor dem, was alleinerziehende Eltern geleistet haben, die plötzlich Home-Schooling organisieren mussten. Das bleibt nicht ohne Spuren und das kann niemand einfach so aus dem Ärmel schütteln.
Lasst uns zusammen halten, niemand ist allein. Du bist vielleicht manchmal einsam, aber nie allein. Wir schaffen das.
Bildquelle: Scott Webb, Unsplash