Nimmt unsere durchschnittliche menschliche Körpertemperatur wirklich kontinuierlich ab? Und was könnten die Ursachen dafür sein?
Während wir einer globalen Klimaerwärmung mit steigendem Meeresspiegel entgegen sehen, kühlt der Mensch angeblich ab. Seit Beginn der sogenannten industriellen Revolution vor gut 150 Jahren habe die mittlere Körpertemperatur des Menschen offensichtlich kontinuierlich abgenommen, will eine großangelegte Studie aus den USA belegen. Für die Untersuchung werteten Forscher der Stanford-Universität in Kalifornien/USA Datensätze von drei Kohorten aus, die 677.423 Temperaturmessungen umfassten. Die erste Kohorte bestand aus 23.710 Veteranen des amerikanischen Bürgerkriegs – Temperaturangaben von 1860 bis 1940. Zwei weitere Kohorten umfassten Messungen zwischen 1971 und 1975 (N=15.301) und zwischen 2007 und 2017 (N=150.280).
Anhand der Datensätze konnten die Forscher herausrechnen, dass die Körpertemperatur der Amerikaner im Durchschnitt um 0,03°C pro Dekade sinkt. Männer, im frühen 19. Jahrhundert geboren, hatten somit noch eine um 0,59°C höhere Körpertemperatur als heutige Geschlechtsgenossen. Die Datenlage zu Temperatur von Frauen ließ sich nicht so lange zurückverfolgen – seit den 1890er Jahren sank aber auch ihre Körpertemperatur um 0,32°C.
Im 19. Jahrhundert wurde 37,0°Celsius postuliert. Die heutige durchschnittliche Körpertemperatur beträgt dagegen 36,6°C.
Es ist aber unredlich und unwissenschaftlich, generalisierend zu behaupten dass die durchschnittliche oberflächliche Körpertemperatur des Menschen in den vergangenen 1,5 Jahrhunderten um 0,59° Celsius gesunken wäre. Die Publikation „Decreasing human body temperature in the United States since the Industrial Revolution” von Myroslava Protsiv et al.
https://elifesciences.org/articles/49555
bezieht sich nur und ausschließlich auf die USA. Sie ist nicht mal repräsentativ für den nordamerikanischen Kontinent.
Die erste Kohorte dieser Publikation [“Union Army Veterans of the Civil War UAVCW (N = 23.710; measurement years 1860–1940)“] ist für wissenschaftliche Zwecke unbrauchbar: Weil es sich um einen Zeitraum von 80 Jahren handelte, in der allein die Lebenserwartung 1860 bei 38 Lebensjahren lag und bis 1940 erheblich zugenommen hatte, bzw. ausschließlich Männer untersucht wurden [„UAVCW included men only“]. Bei der 2. Kohorte [“National Health and Nutrition Examination Survey I”] und der 3. Kohorte [„Stanford Translational Research Integrated Database Environment“] bleibt ungeklärt, ob tatsächlich objektivierbare Messungen der Körper-Oberflächen-/-Kerntemperatur durchgeführt bzw. nur durch das Fragebogeninstrumentarium abgefragt wurden.
37° Celsius galten "als durchschnittlicher Wert, den Carl Reinhold August Wunderlich 1852 nach der Bestimmung der axillären Temperatur von 25.000 Patienten aus Leipzig ermittelt hat“
https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/108601 Das ist aus 3 Gründen längst obsolet:
1. Die axilläre Temperaturmessung ist, global gesehen, gar nicht üblich. Sie ist schwankungs-/fehleranfällig und wird häufig durch orale, rektale oder sonstige Messungen ergänzt/ersetzt.
2. Wunderlich hat seine Messungen nur und ausschließlich an Patienten aus Leipzig ermittelt, einer nicht nur zur damaligen Zeit keinesfalls repräsentativen Kohorte.
3. In 1852 gab es keine geeichten, kalibrierten, methodisch exakten Fiebermessungen. Erhaltene Fieberthermometer aus dieser Zeit weisen z. T. lageverschiebliche Skalen auf.
4. Im Jahr 1852 lag die Lebenserwartung in Deutschland bei etwa 38 Jahren.
Die Publikation “Individual differences in normal body temperature: longitudinal big data analysis of patient records”
BMJ 2017; 359 doi:
https://doi.org/10.1136/bmj.j5468
von Ziad Obermeyer et al. beschreibt ebenfalls Patienten eines akademischen Lehrkrankenhauses und kommt mittels oraler-, Schläfen- und Ohr-Messungen (nur 0,1% axilläre Messungen!) [”Temperature measurements were largely oral (88.2% oral, 3.5% temporal, 3.0% tympanic, 0.1% axillary, 5.2% not recorded), and temporal, tympanic, and axillary temperatures were significantly lower than oral temperatures (by –0.03°C, –0.06°C, and –0.27°C…”] auf einen Durchschnittswert von 36,6°C Körpertemperatur bei Patientinnen und Patienten.
"Results - In a diverse cohort of 35.488 patients (mean age 52.9 years, 64% women, 41% non-white race) with 243.506 temperature measurements, mean temperature was 36.6°C (95% range 35.7-37.3°C, 99% range 35.3-37.7°C). Several demographic factors were linked to individual level temperature, with older people the coolest (–0.021°C for every decade, P<0.001) and African-American women the hottest (versus white men: 0.052°C, P<0.001)."
Verwendet wurde ein elektronische Sonden-Thermometer [„Welch Allyn SureTemp Plus digital thermometers were present in most examination rooms“]. Die Obermeyer-Publikation umfasst noch weitere Ergebnisse, die hier nicht ausführlich diskutiert werden: „Several demographic factors were linked to individual level temperature, with older people the coolest (–0.021°C for every decade, P<0.001) and African-American women the hottest (versus white men: 0.052°C, P<0.001). Several comorbidities were linked to lower temperature (eg, hypothyroidism: –0.013°C, P=0.01) or higher temperature (eg, cancer: 0.020, P<0.001), as were physiological measurements (eg, body mass index: 0.002 per m/kg2, P<0.001). Overall, measured factors collectively explained only 8.2% of individual temperature variation. Despite this, unexplained temperature variation was a significant predictor of subsequent mortality: controlling for all measured factors, an increase of 0.149°C (1 SD of individual temperature in the data) was linked to 8.4% higher one year mortality (P=0.014).
Conclusions - Individuals’ baseline temperatures showed meaningful variation that was not due solely to measurement error or environmental factors. Baseline temperatures correlated with demographics, comorbid conditions, and physiology, but these factors explained only a small part of individual temperature variation. Unexplained variation in baseline temperature, however, strongly predicted mortality.“
Die Hypothese, dass messfehler-unabhängig „die durchschnittliche oberflächliche Körpertemperatur des Menschen generell in den vergangenen 1,5 Jahrhunderten um 0,59° Celsius gesunken“ sei, wird eher durch die objektiven Entwicklungen der Menschheit in den vergangenen gut 150 Jahren als Ursachen erklärt:
1. Die Lebenserwartung (Alter macht kälter) in hochindustrialisierten Ländern hat sich mehr als verdoppelt.
2. Das Längenwachstum (Größe macht kälter) hat erheblich zugenommen. Die typische Bettenlänge auch vor 1850-1860 lag bei 160 cm (zu besichtigen z. B. im Hôtel-Dieu, ein ehemaliges Krankenhaus in Beaune/F, das im Jahre 1443 gegründet und bis 1971 als Hospital genutzt wurde).
3. Allgemeine Gewichtszunahme/(prä-) morbide Adipositas und verbesserte Nahrungs- bzw. Trinkmengen-Versorgung müssen berücksichtigt werden (Dicksein macht kälter).
4. Akute und chronische Infektionen mit fieberhaften Allgemeinreaktionen sind durch Antibiotika- und Antipyretika-Einsatz erheblich zurückgegangen.
5. Harte, zehrende, körperliche Arbeit (Körperarbeit macht wärmer) hat insbesondere bei Männern deutlich abgenommen. Deshalb ist der angenommene Temperaturrückgang bei Frauen auch geringer ausgefallen, wobei deren körperliche Inanspruchnahme sich historisch wohl weniger verringert hat.
Im 19. Jahrhundert wurde bei Patienten 37,0°Celsius postuliert. Die heutige durchschnittliche Körpertemperatur beträgt aus verschiedensten Gründen dagegen 36,6°C und weniger, weil die Werte überwiegend nur bei PatientInnen und nicht bei Gesunden gemessen wurden.
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