Ein neues Viren-Testsystem kann nicht nur aktuelle Infektionen aufspüren und Erreger bestimmen, sondern auch latente Besiedlungen und Begegnungen weit in der Vergangenheit aufklären. Mikrobiologen sind sich noch nicht sicher, ob sie jubeln oder skeptisch bleiben sollen.
Die Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV) ist so häufig, dass es fast kaum jemanden gibt, der es nicht in sich trägt. Meist symptomlos, kann es jedoch bei Immunsuppression zu schweren Krankheiten führen. Verschiedene Tumore wie etwa Morbus Hodgkin, aber auch Autoimmunkrankheiten wie Multiple Sklerose oder Rheumatoide Arthritis werden mit der zunächst meist unbemerkten Virusinfektion in Verbindung gebracht. Das Herpesvirus ist wohl eines der bekanntesten Beispiel für eine latente Vireninfektion und ihren Auswirkungen auf die Gesundheit, noch Jahre nach dem Vireneinfall. Auch von vielen anderen viralen Kurz- und Langzeitbewohnern ist nicht genau bekannt, welche Spuren sie im Körper hinterlassen und wie der auf ihre Anwesenheit reagiert. Etliche Viren wie etwa Chikungunya oder MERS waren bis vor einigen Jahren zumindest in unseren Breiten weitgehend unbekannt, ebenso die Symptome einer Infektion.
Mit einem neuen Test könnten viele Fragen über die Anwesenheit neuer und altbekannter Viren im humanen Betriebssystem neu angegangen und Lösungen leichter gefunden werden. Denn von Autoren der angesehenen Harvard Medical School in Boston stammt ein Science-Artikel [Paywall], der einen völlig neuartigen Ansatz zur Virenanalyse beschreibt. Nur wenige Mikroliter Blut genügen, um alle Infektionen seit der frühesten Kindheit nachweisen. Zudem ist dieser Test mit rund 25 US-Dollar relativ günstig, wenn ihn ein Labor im Großmaßstab durchführt. Nach zwei bis drei Tagen erfährt der Patient die Namen seiner derzeitigen und früheren Bewohner. Die bisherigen Virentests basierten entweder auf der Suche nach virenspezifischen Nukleinsäuresequenzen oder aber auf serologischen Tests, die Virenproteine oder die vom Immunsystem produzierten Antikörper dagegen aufspüren. Dabei geht es jedoch immer nur um einzelne oder wenige Virenstämme. Nukleinsäuretests entdecken zudem nur aktuelle Infektionen in den zur Probe einsandten Geweben. Der neuartige Test reagiert dagegen auf alle bisher bekannten humanpathogenen Viren.
Die Methode, der sich die Forscher bei der Entwicklung bedienten, beruht auf einem sogenannten Phagen-Display. Die Forscher synthetisierten über 90.000 Oligonukleotide, die in den Sequenzen der rund 200 Virenarten mit Menschenwirt enthalten sind. Die sich an ihren Enden überlappenden Sequenzen klonierten sie in Bakteriophagen (T7), sodass jeweils ein Phage aus dem entsprechenden Oligonukleotid ein 56 Aminosäuren langes Peptid produziert und es auf seiner Oberfläche präsentiert. Vermischt mit Blut oder einer Referenzprobe, die Antikörper gegen die entsprechenden viralen Peptide enthält, binden nur diese Antikörper an die Phagen. Die Komplexe von Phage samt Antikörper lassen sich nun präzipitieren und mit einem Hochleistungs-DNA-Sequenzierer analysieren. Die Sequenz gibt nun die Hinweise auf die Herkunft des gebundenen Viruspeptids, das die Antikörper eingefangen haben. Da fast alle Virusinfektionen im Menschen Spuren in Form von Antikörpern hinterlassen, kann der Test gegenwärtige und vergangene Reaktionen des Immunsystems gegen die Eindringlinge dokumentieren.
Die Empfindlichkeit des neuen Ansatzes zur Bestimmung des humanen Viroms ist dabei erstaunlich hoch und liegt nach den Angaben der Forscher zwischen 95 und 100 Prozent. „Wir haben keine falsch positiven Ergebnisse bei Probanden gehabt, die“, so Senior-Autor Stephen Elledge, „in Wirklichkeit negativ waren.“ Mit einer kleinen Studie an 569 Probanden aus den USA, Südafrika, Thailand und Peru konnte der Test erst einmal überzeugen. Bei insgesamt 106 Mio. Peptid-Antikörper-Bindungen kamen die Teilnehmer auf durchschnittlich zehn unterschiedliche Virusinfektionen in ihrem bisherigen Leben, einige Leute brachten es aber auch auf bis zu 84 Virenarten. Teilnehmer aus den USA hatten im Durchschnitt ein kleineres Virom als jene der anderen Staaten, deren Gesundheitssystem und hygienische Verhältnisse weniger hoch entwickelt waren. Ebenso begünstigte eine HIV-Infektion den Einfall anderer Viren. Dass viele Infektionen erst im fortgeschrittenen Alter stattfinden, beweist die Tatsache, dass sich bei Kindern weniger verschiedene Antikörper als bei Erwachsenen finden lassen.
Am häufigsten fanden sich, wie erwartet, das Epstein-Barr-Virus (HHV-4, 87 %), Rhinoviren A und B und Adenoviren (jeweils rund 70 %). Bei größeren Viren reagierten im Durchschnitt mehr unterschiedliche Antikörper auf den Test, wahrscheinlich aufgrund der höheren Anzahl an verfügbaren Epitopen. Bei kleineren Viren, aber auch dem Influenza oder Poliovirus fanden die Forscher eine niedrigere Antikörper-Rate als sie aufgrund der Durchseuchung und einer hohen Impfrate erwarteten. Hier zeigen sich auch die Grenzen der Test-Prototyps. Möglicherweise, so eine Erklärung der Autoren, erkennen die produzierten Antikörper bei einer Infektion diskontinuierliche Epitope der viralen Tertiärstruktur, die nicht durch ein 56 Aminosäuren langes Test-Peptid abgebildet werden können. Die Ergebnisse dieses ersten größeren Virenscreens weisen auch darauf hin, dass das Immunsystem sich sogenannter „public Epitopes“ bedient, um gegen Eindringlinge vorzugehen. Gegen die gleichen Viren generiert es fast immer ganz ähnliche Antikörper, die ein bestimmtes Motiv auf der Oberfläche erkennen. Eine bestimmte Kombination von 5 Peptiden fand sich in 99 Prozent aller untersuchten Blutproben. Diese Erkenntnis könnte in Zukunft eine wichtige Rolle spielen, wenn es um die Entwicklung von Adjuvantien und Vakzinen bei Imfpstoffherstellung geht.
„Es gibt eine Reihe chronischer Krankheiten, bei denen eine Virusinfektion beteiligt sein könnte“, so Vincent Racaniello von der New Yorker Columbia University. „Bisher konnten wir das aber nicht festnageln [...] und die Verbindung auch nicht richtig beweisen. Der neue Test könnte uns dabei kräftig unterstützen. Der Ansatz ist wirklich cool.“ Etwas kritischer sehen das deutsche Experten: „Dieser Test ist nicht gedacht für die Diagnostik individueller Infektionen“, sagt etwa Thomas Mertens, derzeitiger Präsident der deutschen Virologen. „Für den praktischen klinischen Alltag sehe ich derzeit noch keinen Nutzen.“ Dennoch räumt er auch ein, dass die Methode dazu beitragen kann, Zusammenhänge von Virusinfektionen mit Krankheiten besser aufzuklären. Gerade bei der Detektion kleiner Viren müssten zuvor aber noch Schwachstellen ausgemerzt werden, ebenso in der Erkennung nichtlinearer Epitope. Viren, die ihre immunogene Struktur durch eine Modifikation nach der Proteinsynthese erhalten (Posttranslationale Modifikation), fallen dabei auch aus dem Test-Raster. Der direkte Test einer spezifischen Nukleinsäuredetektion ist bei einer aktuellen Infektion wohl bei vielen Viren noch etwas empfindlicher. Dennoch bietet dieser ganz neue Ansatz zur Analyse des menschlichen Viroms nach seiner Optimierung auch etliche Möglichkeiten im klinischen Bereich. Latente symptomlose Virusinfektionen können in der Onkologie die Wirkung einer Chemotherapie mitbestimmen. Sie aufzudecken, würde die Erfolgsquote vermutlich heben. Nach allen bisherigen Erkenntnissen hängt die Entstehung von Krankheiten wie Typ-1-Diabetes, entzündlichen Darmkrankheiten oder auch Multipler Sklerose auch von der Reaktion des Immunsystems gegen eingedrungene Viren ab. Wüsste man gerade bei diesen Patienten mehr über ihre virale Vergangenheit, dann brächte das sicher mehr als nur einen Lichtstrahl in die Forschung zur Entstehung ihrer Leiden. Originalpublikation: Comprehensive serological profiling of human populations using a synthetic human virome [Paywall] George J. Xu et al.; Science, doi: 10.1126/science.aaa0698; 2015