Der Arzt als Patient: ein Rollentausch, der Medizinern nicht behagt. Dabei leiden viele von ihnen unter psychischen Problemen. Die Corona-Pandemie hat die Belastung noch verstärkt.
Wenn Ärzte krank sind und medizinische Hilfe benötigen, fällt ihnen der Rollentausch für gewöhnlich schwer. Dabei ist es besonders für Ärzte wichtig, sich gut um ihre Gesundheit zu kümmern – und zwar nicht nur um die körperliche. Denn Ärzte haben ein hohes Risiko für das Auftreten eines Burnouts oder einer klinischen Depression. So liegt die geschätzte Prävalenz für ein Burnout bei Ärzten zwischen 4 und 20 Prozent, für eine klinische Depression zwischen 6 und 13 Prozent. Eindrücklich schilderte die Bloggerin und Ärztin Marlene Heckl vor einigen Jahren den Fall eines Neurochirurgen, der so lange weiterarbeitete, bis ihm das Skalpell im OP aus der Hand fiel, Frau und Kinder hatten ihn zu diesem Zeitpunkt schon längst verlassen.
„Ärzten fällt es besonders schwer, sich zu outen, wenn es um psychische Probleme geht“, bestätigt Dr. Karsten Böhm, Psychotherapeut in der Privatklinik Friedenweiler, die auf die Behandlung von Ärzten spezialisiert ist. Selbst nach Aufnahme in der Klinik bräuchten viele Ärzte etwas Zeit, um sich in ihrer Rolle als Patient einzufinden. „Da wird dann noch von den anderen Klinikgästen als ‚die Patienten‘ gesprochen, man selbst zählt aber nicht dazu. Manchmal braucht es ein deutliches ‚Hören Sie: Sie sind jetzt auch Patient!‘“, so Böhm.
Einer Umfrage aus dem Jahr 2009 zufolge hat jeder vierte Arzt mit Symptomen einer Depression zu tun. In der Umfrage wurden 790 Hausärzte aus Rheinland-Pfalz befragt. Mehr als jeder sechste gab an, im Vorjahr der Umfrage Psychopharmaka eingenommen zu haben. In Großbritanien fühlt sich laut einer Umfrage zufolge jeder dritte Arzt gestresst oder ausgebrannt.
Gerade kürzlich hat Medscape eine nicht repräsentative Umfrage veröffentlicht, an der 1.130 Ärzte teilgenommen hatten. 55 Prozent der Befragten gaben an, Symptome einer Depression und/oder eines Burnouts bei sich festgestellt zu haben. Das sind 10 Prozent mehr als zwei Jahre zuvor.
Immerhin die Suizidrate, die unter Ärzten lange Zeit höher als in anderen Berufsgruppen gewesen ist, ist mittlerweile deutlich gesunken. Im Jahr 2010 lag sie für Ärzte noch zwischen dem 0,9- und 3-Fachen der Suizidrate in der Allgemeinbevölkerung, bei Ärztinnen war es sogar das 1,7- bis 6-Fache. Besonders gefährdet: die Berufsgruppe der Anästhesisten. Denn hier trifft die hohe Arbeitsbelastung auf einfachen Zugang zu starken Medikamenten wie Sedativa und Narkotika.
Dr. Karsten Böhm, PsychotherapeutAber nicht nur Anästhesisten sind Risiko-Kandidaten für Alkohol- oder Medikamentensucht. Die Auswertung von 920 Fragebögen, die unter anderem an Ärzte aus Uni Kliniken und Privatpraxen ging, hat ergeben, dass 23 Prozent der Ärzte schädliche Mengen von Alkohol konsumieren. Das bestätigt auch Böhm. Nicht wenige Ärzte hätten einen problematischen Umgang mit Alkohol, negierten das aber zu Beginn der Behandlung häufig noch.Auch Selbstmedikation ist ein Problem: „Viele Ärzte, die bei uns eintreffen, haben es schon selbst mit Psychopharmaka versucht“, sagt Böhm. Das könne in einigen Fällen sicher auch mal gut gehen, in vielen Fällen verschlimmere das aber die Situation, da das Kernproblem ignoriert werde.
Personalmangel, Überstunden, zunehmender Zeitdruck und immer zeitintensivere Bürokratie können den Arztberuf zu einer belastenden Tätigkeit machen. Dazu kommt die hohe Verantwortung den Patienten gegenüber, besonders bedrückende Patientenfälle, die einen mitnehmen können und häufig auch die immer wiederkehrende Konfrontation mit dem Tod. Lag die durchschnittliche Arbeitszeit pro Woche im Jahr 2017 noch bei 51 Arbeitsstunden, ist sie im vergangenen Jahr auf 56,5 Stunden pro Woche gestiegen. Das ergibt ein Vergleich des Marburger-Bund-Monitors. Laut der Erhebung denken 21 Prozent der Klinikärzte über einen Berufswechsel nach. Insgesamt wurden hier 6.500 angestellte Ärzte befragt.
Marbuger-Bund-Monitor 2019, ©Marbuger BundMarbuger-Bund-Monitor 2019, ©Marbuger Bund
Circa drei Viertel (74 Prozent) der Befragten hatten das Gefühl, die Arbeitszeiten würden ihre Gesundheit beeinträchtigen, was sich beispielsweise durch Schlafstörungen oder häufige Müdigkeit bemerkbar mache. Bei 15 Prozent der befragten Ärzte war die psychische Belastung durch die Arbeit so groß, dass sie sich in ärztliche bzw. psychotherapeutische Behandlung begeben mussten.
Auch der ökonomische Erwartungsdruck in Kliniken bringt immer mehr Ärzte an ihre Belastungsgrenzen: Knapp die Hälfte der Befragten (49 %) sagte, sie fühlten sich häufig überlastet. Jeder zehnte stimmt der Aussage „Ich gehe ständig über meine Grenzen“ zu.
Die Corona-Pandemie in diesem Jahr hat vieles noch verschlimmert. „Die psychische Belastung hat für viele Ärzte enorm zugenommen“, sagt Böhm und berichtet von einem Arzt, der bei der Aufnahme erzählte, in seiner Klinik sei die Anweisung gewesen: arbeiten, arbeiten, arbeiten und außerhalb der Arbeit alle Kontakte meiden.
Aber gerade soziale Kontakte sind wichtig, um mit dem Arztberuf gut klar zu kommen, darauf weist auch auch Psychiater Peter Teuschel in seinem Blogbeitrag hin. „Wenn man nach der Praxis auf dem Sofa zusammenbricht und zu nichts mehr Lust hat, ist man schon auf einem gefährlichen Weg“, schreibt er.
Vielleicht beginnt die hohe Belastung und der Erwartungsdruck aber schon früher. Das legt zumindest eine Meta-Analyse aus dem Jahr 2016 nahe. Hier wurden über 180 Studien aus 43 Ländern einbezogen. Die Auswertung ergab, dass 27 Prozent der Medizinstudenten an Depressionen litten oder depressive Symptome aufwiesen. „Wenn ich’s nicht kann, kann’s keiner – diese Auffassung haben hier viele Ärzte“, erzählt Böhm. Und das bekomme man im Studium schon so eingeimpft.
Dass es aber schon eine ganze Menge Angebote für Ärzte gibt, die Ärzten helfen, mit dem belastenden Job umzugehen, findet Jan Dreher, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie.
„Kliniken haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten gemerkt, dass psychische Gesundheit wichtig ist und haben auch Spezialinstrumente etabliert, die helfen können, psychische Belastungen zu reduzieren.“ In psychiatrischen Kliniken seien zum Beispiel Balint-Gruppen Teil der Weiterbildungsordnung und seien somit eine lebendige Kultur, die aufrecht erhalten wird. Mehr dazu kann hier im Gespräch mit Jan Dreher gehört werden.
In einer Interviewstudie der Uniklinik Heidelberg untersuchten Psychologen Resilienzprozesse, die Ärzten nutzen können, um Gesundheit, Sinnerleben und Freude unter den belastenden Arbeitsbedingungen zu erhalten. Dabei arbeiteten sie acht Schwerpunkte zusammen mit den Befragen heraus. Es sind Ratschläge, die sie nachfolgenden Ärztegenerationen mit auf den Weg geben würden.
1. Aufrechterhaltung und Pflege von privaten Interessen2. Selbstfürsorge und Achtsamkeit: eigene Grenzen wahrnehmen und schützen3. Kollegialen Austausch suchen und pflegen4. regelmäßig Erwartungen und Prioritäten prüfen5. frühe Auseinandersetzung mit eigenen biographischen Anfälligkeiten6. Hilfe suchen und annehmen7. finanzielle Risiken minimieren8. bewusste Nähe-Distanz-Regulation im Patientenkontakt
Die Landärztin, DocCheck-Bloggerin und Hausärztin, beobachtet außerdem einen positiven Trend bei jüngeren Ärzten: „Es wird nicht mehr als so ehrenrührig angesehen, sich Hilfe zu holen.“ Dennoch werde der Umgang mit psychischen Belastungen des Arztberufs im Studium immer noch zu wenig thematisiert. „Trotzdem geht der Trend auch in der Medizin mittlerweile immer mehr zum Teamplayer als zum klassischen einsamen Helden-Arzt in seiner Praxis“, fügt sie hinzu. Trotzdem bleibe es schwierig, mit dem Leid der Patienten umzugehen und – datenschutzkonform – auch mal Dampf abzulassen.
Eine Möglichkeit, sich Frust und Hilflosigkeit von der Seele zu reden, ist der Austausch mit Kollegen in den bereits erwähnten Balint-Gruppen. Zum Thema Balint-Gruppen sagt Böhm: Sowas funktioniere nur, wenn die Ärzte selbst Lust darauf haben und es nicht eine weitere Anordnung von oben ist. Man solle hier den Ärzten die Möglichkeit geben, selbst zu besprechen, welche Maßnahmen sie ausprobieren wollen. Wenn es nur eine weitere Verpflichtung auf der Tagesordnung wird, bringe das nichts. Denn die meisten Ärzte seien vor allem vom bürokratischen Aufwand frustriert. „Das was ich hier am häufigsten höre, ist die Aussage: ‚Ich wünsche mir schlicht mehr Zeit beim Patienten‘.“
Außerdem müsse das Gesamtsystem Krankenhaus stimmen. Dazu gehöre auch so etwas Banales wie eine ordentliche Krankenhausküche, sagt Böhm.
Wenn es für Prävention zu spät ist, gibt es speziell auf Ärzte zugeschnittene Therapieplätze in deutschen Kliniken. Bei den Landesärztekammern gibt es Interventionsprogramme für Medikamenten- oder Alkoholmissbrauch.
In jedem Fall ist es wichtig, Angebote für Ärzte zu schaffen und auszubauen, mit deren Hilfe sie sich psychisch gesund halten können, zu diesem Schluss kommt auch eine Studie aus Ulm. Immerhin hätten viele junge Ärzte schon ein anderes Rollenverständnis des Arztberufs und legen auch Wert auf mehr Freizeit und Lebensqualität, so Böhm. „Aber das Klinik-System passt aktuell noch nicht zu diesem neuen Rollenverständnis.“
Um den Arztberuf zu einem gesünderen Beruf zu machen, müssten sich in diesem System nach Böhms Ansicht vor allem drei Dinge ändern: Die Arzttätigkeit muss zeitlich stärker limitiert sein. Genug Ärzte müssen ausgebildet werden. Und genug Pflegekräfte ihren Beruf ausüben wollen.
Und auch wenn der Beruf belastend sein kann, findet Böhm, dass Ärzte, die Hilfe benötigen, einen großen Vorteil haben: „Bei vielen Kollegen finden sie ein offenes Ohr. Vorausgesetzt, man sucht danach.“
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