Seit der Pandemie befindet sich die Pflege mehr denn je in der Krise. Nachdem Niedersachsen nun erneut die Höchstarbeitszeit auf 60 Wochenstunden erhöht, reicht es vielen Pflegekräften.
„Die Regierung sollte sich schämen“, wird die niedersächsische Pflegekammer-Präsidentin Nadya Klarmann in einem Pressebericht zitiert. Das Land Niedersachsen hat erneut beschlossen, aufgrund der Corona-Krise für Pflegekräfte die maximale Arbeitszeit pro Woche auf 60 Stunden anzuheben. Das entspräche 12 Stunden pro Werktag. Jene Menschen, die das System am Laufen halten, müssten jetzt eine Situation retten, die sich durch jahrelange Fehler in der Pflegepolitik zugespitzt habe, findet Klarmann. Die Regelung ist bis Ende Mai befristet, wie das Sozialministerium mitteilte.
Um die Neuregelung besser einordnen zu können, hier ein Auszug zum Arbeitsrecht für Pflegekräfte:
Die Arbeitszeit der Arbeitnehmer darf acht Stunden täglich nicht überschreiten. Arbeitszeit ist dabei die Zeit vom Beginn bis zum Ende der Arbeit ohne die Ruhepausen. Von dem Grundsatz der Höchstarbeitszeit von acht Stunden pro Werktag gibt es drei Ausnahmen:
Die Arbeitszeit kann auf bis zu zehn Stunden verlängert werden, wenn innerhalb von sechs Kalendermonaten oder innerhalb von 24 Wochen im Durchschnitt acht Stunden werktäglich nicht überschritten werden.
Bei vorübergehenden Arbeiten in Notfällen und in außergewöhnlichen Fällen wie beispielsweise einer Naturkatastrophe kann die Arbeitszeit auf länger als zehn Stunden werktäglich verlängert werden.
Bei unaufschiebbaren Arbeiten zur Behandlung, Pflege und Betreuung von Personen darf die Arbeitszeit ebenfalls acht Stunden überschreiten, allerdings nur an einzelnen Tagen.
„Mich interessiert jetzt wirklich, was Verdi dazu sagt“, twittert eine Pflegewissenschaftlerin in diesem Zusammenhang. Viele Menschen sehen in der Entscheidung Niedersachsens einen gravierenden Fehler: „Als wenn es der Pflege nicht schon schlecht genug ginge. Wenn es zu hoher Auslastung oder sogar Triage kommt, sind die Folgen fürs Personal kaum abzusehen“, befürchtet ein Allgemeinmediziner.
„Es ist einfach pervers: Beim Einhalten der Corona-Regeln setzt [man auf] Freiwilligkeit. Beim Umgang mit den Konsequenzen daraus auf Zwang“, argumentiert ein User. „Kein Mensch wird sich in Zukunft für einen Job entscheiden, in dem man so rücksichtslos verheizt wird“, kritisiert eine Userin. „Wir, sowohl Ärzte als auch Pflegekräfte und alle Beteiligten im Gesundheitswesen, sind keine Verfügungsmasse. Wir haben auch eine Familie“, kommentiert ein Gesundheits- und Krankenpfleger.
Ein Pflegenotstand, der in Deutschland seit Jahren voranschreitet, erreicht nun im Zuge der Pandemie eine neue Dimension. „Ausreichend Intensivbetten und Beatmungsgeräte helfen nicht weiter, wenn wir kein Personal haben, um die Patienten zu versorgen“, stellte die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) kürzlich klar. In der Intensivpflege herrsche ein gewaltiger bundesweiter Fachkräftemangel.
Für Betroffene könnte die Aussage offensichtlicher nicht sein. „Nicht, dass das ganze Drama bereits seit Monaten (eigentlich Jahren!) absehbar war“, kommentiert etwa ein Anästhesist unter dem Tweet der DIVI. „DAS ist neu?“, fragt ein anderer User. „Bereits heute sperren viele Krankenhäuser regelmäßig Betten, weil nicht genug Pflegepersonal zur Verfügung steht, selbst auf Kinderintensivstationen“, sagt auch Intensivpfleger, ver.di- und SPD-Mitglied Alexander Jorde. „97 Prozent der Mitarbeiter von Intensivstationen glauben nicht, dass ausreichend Intensivpflegekräfte zur Verfügung stehen, um die etwa 30.000 im Register der DIVI gemeldeten Intensivbetten in der zweiten Welle der Coronapandemie einsetzen zu können“, geht aus einer aktuellen Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN) hervor.
Nun wird versucht, diesen Mangel zu kompensieren. Höchstarbeitszeiten werden ausgehebelt oder infiziertes Pflegepersonal arbeitet weiter, wie es dem Redaktionsnetzwerk Deutschland zufolge in Bremen und Bayern der Fall sein soll. Warum es zu so einem maroden Zustand der Pflege in unserem Gesundheitssystem gekommen ist, hat laut Jorde, der durch seinen Auftritt bei der ARD-Wahlarena 2017 bekannt wurde, zwei zentrale Gründe.
Zum einen gehe es privaten Klinikkonzernen oder kommunalen Trägern in erster Linie darum, ihre Rendite zu steigern bzw. schwarze Zahlen zu schreiben. Um das zu erreichen, würde an Pflegekräften gespart, kritisiert der Intensivpfleger in einem Gastbeitrag bei Zeit. Zum anderen gehe es um fehlende Anerkennung der Pflege, aber auch um fehlendes Wissen über diesen Beruf: „[Viele Menschen glauben] immer noch, unser Job würde sich auf das Beseitigen von Ausscheidungen beschränken.“ Auch Corona habe daran nicht viel geändert.
Ein kleiner Lichtblick in der Debatte ist der Tarifabschluss zum öffentlichen Dienst, der eine rechtliche Grundlage für eine bessere Bezahlung von Pflegekräften in Deutschland schaffen soll. „Aus meiner Sicht ist der Tarifabschluss vom Sonntag ein gutes Ergebnis, vor allem wenn man bedenkt, wie wenig Pflegende in einer Gewerkschaft sind. Natürlich hätte es mehr gebraucht, aber dafür wäre auch mehr Zusammenhalt nötig“, so der Intensivpfleger. Sein Vorschlag: eine dauerhafte Corona-Stundenzulage, die sich nach der Pandemie in Tarife integrieren ließe, um neue Pflegekräfte zu werben.
In Hinsicht auf zusätzliche Arbeitsstunden im Pflegeberuf sieht Klarmann einen weiteren Faktor, der gegen eine Berufswahl im Pflegesektor spricht: „Eine weitere Ausdehnung der Arbeitszeit ist unter keinen Umständen zu akzeptieren und wird die Kolleginnen und Kollegen aus dem Beruf treiben.“
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