Entwickler aus Hamburg haben ein Tool gegen störende Ohrgeräusche entwickelt. Patienten benötigen für akustische Trainings nur noch ein Smartphone mit App. Wann gesetzliche Krankenkassen das innovative Medizinprodukt erstatten, ist jedoch unklar.
Es klingelt, piepst oder rauscht im Ohr: Bundesweit leiden drei Millionen Menschen an Tinnitus. Unangenehme Empfindungen sind keine Frage des Alters. Bei Jugendlichen ab 14 Jahren kommt Tinnitus ähnlich häufig vor wie im Erwachsenenalter, berichten Experten am Deutschen Zentrum für Musiktherapieforschung (Viktor Dulger Institut). Die Gründe reichen vom lauten MP3-Player oder vom Konzertbesuch bis zu Stress und damit verbundenen psychischen Belastungen.
Dachten Wissenschaftler anfangs, Tinnitus entstünde im Innenohr selbst, wissen sie heute, dass neuronale Prozesse aus dem Ruder laufen. Unser Gehirn versucht, Hörstörungen zu kompensieren, und reguliert die Aktivität zentraler Hörbahnen nach oben. Schließlich entstehen unangenehme Ohrgeräusche. Jede Nervenzelle unseres Hörzentrums verarbeitet eine bestimmte Frequenz. Leiden Patienten am subjektiven Tinnitus, sind einzelne Neuronen besonders aktiv. Ihre Überreaktion korreliert mit der empfundenen Lautstärke von Ohrgeräuschen. Zur Therapie setzt die Sonormed GmbH auf Tinnitracks, um neuroplastische Prozesse per Tailor-Made Notched Music Training in die richtige Richtung zu steuern. Das geht so: Bei der ersten Anwendung geben Patienten ihre individuelle Tinnitus-Frequenz ein. HNO-Ärzte oder Hörgeräteakustiker helfen weiter, um den richtigen Wert zu bestimmen – sogar als Kassenleistung. Anschließend laden User ihre Lieblingstitel per Tinnitracks App auf einen Server. Dort entfernen elektronische Filter Teilbereiche des Spektrums, passend zur individuellen Tinnitus-Frequenz. Eine hörbare, aber nicht weiter störende Kerbe (Notch) im Klangspektrum entsteht. Via Download geht es zurück auf das mobile Endgerät. Bearbeitete Musikstücke aktivieren ausschließlich gesunde Nervenzellen. Dadurch soll sich das ursprüngliche Gleichgewicht zwischen erregenden und hemmenden Signalen wieder einstellen. Heavy Metal eignet sich gut, während bei Sprache das Frequenzspektrum zu klein ist. Ohne Fleiß kein Preis: Die App zeigt auch an, ob Betroffene ihr Soll erreicht haben. Etwa 90 Minuten am Tag sind erforderlich, um grauen Zellen beizubringen, besser mit Tinnitus besser klarzukommen.
Dazu etwas Theorie: Im Hörzentrum unseres Gehirns sind Nervenzellen ihrer Frequenz nach angeordnet. Wird ein Neuron aktiviert, bremst es durch laterale Hemmung seine Nachbarn. Per Tinnitracks gefilterte Musik stimuliert Nervenzellen außerhalb der Tinnitus-Frequenz. Auch hier greift die besagte laterale Hemmung – und zwar genau im störenden Frequenzbereich. Nach zwölf Monaten verringerte sich die subjektive Tinnitus-Lautstärke signifikant, verglichen mit „Placebo-Musik“. Tinnitracks gibt als Wert durchschnittlich 25 Prozent an. Gleichzeitig sank die Aktivität im auditiven Cortex um 20 Prozent. Waren in frühe Arbeiten nur eine Handvoll Personen involviert, laufen mehrere Studien zur Musiktherapie mit größeren Teilnehmerzahlen. Die Behandlung selbst eignet sich für Patienten zwischen 18 und 65 Jahren, deren Tinnitus-Frequenz nicht über 8.500 Hz liegt, das sind mehr als 90 Prozent aller Betroffenen. Gleichzeitig muss der Hörverlust unter 65 dB HL liegen. Zwar sind Tailor-Made Notched Music Trainings schon länger bekannt. Allerdings verwenden Patienten ihre Lieblingsmusik auf eigenen Smartphones. Sie können zu Hause oder unterwegs trainieren, ohne Praxisbesuch: ein Gewinn für die Therapietreue.
Nicht nur Menschen mit Tinnitus sind begeistert. Die Community reagiert euphorisch auf Tinnitracks. Deren Entwickler wurden mit Auszeichnungen überhäuft. Am 15. März 2015 erhielten sie bei „South by Southwest“ (SXSW) einem Accelerator „Digital Health & Life Science“. Der Wettbewerb gehört zu den renommiertesten Veranstaltungen seiner Art. Das liegt weniger an den 4.000 Dollar Preisgeld, sondern am Ruf. Bei SXSW startete einst Twitter seinen legendären Siegeszug. Jetzt hoffen die Entwickler aus Hamburg, US-amerikanische Märkte zu erschließen. Damit nicht genug: Sonormed ist mit Tinnitracks zum „Ausgezeichneten Ort“ für eine digitale Welt ernannt worden. Ein erster Platz beim Wettbewerb des European Institute of Innovation and Technology in Eindhoven (EIT) als bestes Unternehmen in der Kategorie Health & Wellbeing kommt mit hinzu. Die Ehrungen schaffen Vertrauen, um weitere Fördergelder zu akquirieren und Expertennetzwerke aufzubauen. Bundesweit sind schon heute mehr als 100 Ärzte und Hörgeräteakustiker mit im Boot: als erste Ansprechpartner bei Fragen, etwa zur Bestimmung der Tinnitus-Frequenz. Krankenkassen üben sich wie so oft in vornehmer Zurückhaltung. Deshalb mussten gesetzlich Versicherte ursprünglich 539 Euro als jährliche Lizenzgebühr berappen. Mittlerweile gibt es die Tinnitracks-App für 19 Euro pro Monat – als angenehmeres Lizenzmodell.