Im November kommt es zu einem Lockdown light in Deutschland. In einem Positionspapier der KBV werden die Maßnahmen kritisiert. Viele Ärzte wiederum kritisieren jetzt die Verfasser des Papiers.
Auch wenn der Begriff nicht exakt auf das zutrifft, was uns bevorsteht, das Wort Lockdown bzw. Lockdown light hat sich im Mainstream durchgesetzt. Und nun kommt es also erneut zu einer solchen Lockdown-Situation, die ein Bündel an Maßnahmen mit sich bringt, das die Ausbreitung von SARS-CoV-2 eindämmen soll.
Ab Montag, dem 2. November, kommt es erneut zur Schließung sämtlicher Lokalbetriebe und zahlreicher Freizeiteinrichtungen wie Kinos, Theater oder Fitnesscenter bis Ende November. Es gelten zudem strengere Kontaktbeschränkungen: In der Öffentlichkeit dürfen sich maximal zehn Personen treffen, die Gruppe darf nur aus Angehörigen oder Personen eines weiteren Haushalts bestehen. Generell sollen Kontakte zu anderen Menschen außerhalb des eigenen Haushalts auf das absolut nötige Minimum beschränkt werden.
Na endlich, sagen die einen. Das geht zu weit, die anderen. Während etwa Bundeskanzlerin und Bundesgesundheitsminister den Beschluss verteidigen, sehen viele darin einen Fehler, wie das gestern (Mittwoch) veröffentlichte Positionspapier der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) zeigt. Darin fordern Wissenschaftler und unterschiedlichste Verbände einen Strategiewechsel in der Pandemiebekämpfung.
So sieht das Positionspapier aus, zu finden hier.
Beteiligt an dem Papier haben sich neben der KBV auch Prof. Hendrik Streeck, Direktor des Instituts für Virologie der Universität Bonn, sowie Prof. Jonas Schmidt-Chanasit, Leiter der Abteilung Arbovirologie am Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg. Die Liste der Unterstützer ist lang und enthält unter anderem die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM), den Deutschen Hausärzteverband und den Spitzenverband Fachärzte Deutschlands (die vollständige Liste ist auf Seite 6 nachzulesen).
Die Kernaussage des Papiers: Ohne die Mitarbeit der Bevölkerung laufen die Maßnahmen ins Leere. Gaststätten, Hotels und Theater zu schließen, kommt für die Verfasser nicht in Frage. Welche Maßnahmen sind also nun vorrangig zu ergreifen? Aus Sicht der Autoren sind es die Folgenden:
Dazu ein Auszug aus dem KBV-Pressebericht:
Alle vier Unterzeichner des Positionspapiers hoben den Schutz der Risikogruppen hervor, denen schwere Krankheitsverläufe drohen, aber diese möglichst nicht zu isolieren. So schlagen sie ein „Schleusen“-Modell für Besucher von Senioren- und Pflegeheimen sowie Krankenhäusern vor, wonach diese nur nach einem negativen Antigen-Schnelltest Zutritt erhalten.
Für die älteren Menschen, die in der Häuslichkeit lebten, müssten Schutzmaßnahmen wie FFP2-Masken und auch in Form von Nachbarschaftshilfe getroffen werden, betonte Streeck.
Mit den entwickelten Vorschlägen könne „die Pandemie langfristig bewältigt werden“, heißt es im KBV-Pressebericht. Es gehe um einen dauerhaften Umgang mit dem Virus. Denn: „Wir werden das Virus so schnell nicht eliminieren können“, sagt Gassen. „Wir können nicht das ganze Land, gar einen Kontinent Wochen und Monate in ein künstliches Koma versetzen.“
Zur besseren Einschätzung der Lage sprechen sich die Autoren für ein bundesweites Ampelsystem aus. Es müsse auf allen relevanten Kennzahlen beruhen: Infektionszahlen, Anzahl der durchgeführten Tests, stationäre und intensivmedizinische Behandlungskapazitäten. Des Weiteren plädiert Gassen für „eine Abkehr von der umfassenden Einzelnachverfolgung persönlicher Kontakte, die schon jetzt nicht mehr gewährleistet werden könne.“
Die Autoren erwarten mehr Eigenverantwortung der Bürger. Statt auf Verbote solle auf Gebote gesetzt werden. An dieser Stelle werden die Einhaltung der Hygienemaßnahmen, die Förderung von Hygienekonzepten sowie die Wichtigkeit des Lüftens betont. Außerdem müsse noch besser über SARS-CoV-2 und seine Verbreitung aufgeklärt werden, das gelte auch für jene Menschen in der Bevölkerung, die nicht gut Deutsch sprechen.
Nicht jeder fühlt sich durch das Positionspapier gut vertreten. So distanzieren sich etwa der Berufsverband deutscher Anästhesisten sowie die deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin in einer Pressemitteilung vom Positionspapier. Auch in den sozialen Medien wird diskutiert. „Lieber Herr Gassen, Ich bin nicht befragt worden“, sagt zum Beispiel eine Hausärztin. Ein Wissenschaftler für molekulare Virologie twittert über „Bedenken gegen das heute vorgestellte Positionspapier“. Auch Pädiater und Blogger Kinderdok äußert sich auf Twitter zum Thema: „Dies ist also der Tag, an dem sich die vereinte Ärzteschaft gegen die vereinte Wissenschaft stellt, und die Kanzlerin einen Wellenbrecher durch Lockdown light verkündet. Mit der Politik kann ich heute leben, mit der Ärzteschaft nicht.“ Ein Anästhesist kritisiert: „Lösungen bietet ihr nicht, Verunsicherung viel.“ „Ich wüsste nicht, wie ihr uns Hausärzten noch mehr in den Rücken fallen könntet“, meldet sich eine Landärztin zu Wort.
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Jetzt mehr Eigenverantwortung jedes Einzelnen zu erwarten, ist richtig. Aber wie realistisch ist es, mit ihr zu rechnen? Klappt es auch ganz ohne Verbote? Das ist eine andere Frage.
Egal, auf welcher Seite man derzeit steht, eines ist klar: Bei einem Problem, das alle Menschen betrifft und dessen Konsequenzen so vielschichtig sind wie bei der Corona-Pandemie, ist es unmöglich, zu einer Entscheidung zu kommen, die alle befürworten. Nicht jeder ist auf die gleiche Weise von der Pandemie betroffen. Wer welchen Kurs im Umgang mit dem Virus einschlägt bzw. für richtig hält, ist eine Frage der Perspektive und der Prioritäten.
Bildquelle: Marko Sellenriek, unsplash