Religiöse Institutionen spielen bei der Gesundheitsversorgung in vielen Ländern eine nicht unwichtige Rolle. Eine Artikelserie im „Lancet“ setzt sich nun dafür ein, deren Stärken gezielt zu nutzen. Doch lassen sich moderne Medizin und Glaube immer vereinbaren?
Religion und Medizin – wie passt das zusammen? Manche religiösen Gruppen lehnen medizinische Hilfe für Kranke strikt ab und propagieren Gebete oder religiöse Zeremonien als einzig zulässige Heilmethoden. Medizinische Einrichtungen, die einer bestimmten Glaubensrichtung unterstehen, geraten leicht in den Verdacht, ihre Patienten nicht nur behandeln, sondern auch bekehren zu wollen. Und nicht zuletzt hat jede Religion ihre eigenen ethisch-moralischen Grundsätze, die nicht immer der Ethik einer wissenschaftlich basierten Medizin entsprechen. Das betrifft zum Beispiel Themen wie Verhütung, Abtreibung, Sterbehilfe oder Impfungen oder die medizinische Versorgung von Homosexuellen oder HIV-Infizierten.
84 Prozent der Weltbevölkerung gehören einer Religion an. Und diese beeinflusst oft auch das Gesundheitsverhalten der Menschen. Glaubensbasierte medizinische Einrichtungen könnten daher – trotz mancher Kontroversen – einen wichtigen Beitrag zur Gesundheitsversorgung leisten, schreiben Jill Olivier von der Universität Kapstadt (Südafrika) und ihre Kollegen in einem Artikel [Paywall] in der Fachzeitschrift „The Lancet“. Dies gelte insbesondere für ärmere Länder oder abgelegene Regionen mit einer mangelhaften öffentlichen Gesundheitsversorgung. „Glaubensbasierte Gesundheitsversorgung“ kann dabei sehr unterschiedlich aussehen: Sie kann Initiativen auf Gemeindeebene, Angebote nationaler oder internationaler Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Initiativen religiöser Gemeinden oder auch staatliche Gesundheitseinrichtungen in muslimischen Ländern umfassen. Jill Olivier und ihr Team konzentrieren sich bei ihrer Untersuchung auf die Rolle dieser Einrichtungen im Afrika südlich der Sahara.
„Oft haben solche Organisationen eine große geographische Reichweite, eine gute Infrastruktur und enge Beziehungen zu den Menschen eines Landes“, beschreiben Olivier und ihr Team. „Sie können dazu beitragen, Impfkampagnen flächendeckend durchzuführen, Hygienemaßnahmen zum Schutz vor Infektionskrankheiten einzuführen oder medizinische Angebote für HIV-Infizierte bereitzustellen.“ Auch Priester und andere religiöse Führer, die bei vielen Menschen großes Vertrauen genießen würden, könnten die Menschen zu Gesundheitsmaßnahmen motivieren. Als Beispiel nennen die Autoren ein Projekt in Sierra Leone, bei dem muslimische und christliche Führer mit UNICEF-Unterstützung eine Impfkampagne durchführten. Auf diese Weise konnten die Impfraten bei Kindern unter einem Jahr von 6 auf 75 Prozent erhöht werden. Darüber hinaus könnten die moralischen Ziele und Werte einer Religion zu einer hochwertigen Gesundheitsversorgung beitragen: Etwa das erklärte Ziel, arme und bedürftige Menschen zu versorgen oder Prinzipien wie Verantwortlichkeit und Gerechtigkeit. „Oft sind die Mitarbeiter solcher Institutionen besonders motiviert und legen besonderen Wert darauf, die Würde der Patienten zu achten“, schreiben Olivier und ihre Kollegen. „Das erhöht oft die Zufriedenheit der Patienten mit der Behandlung.“
Auf der anderen Seite vertreten verschiedene Glaubensrichtungen oft tatsächlich andere Grundsätze als eine Medizin, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und humanistischen Werten basiert. „Das betrifft zum Beispiel viele Bereiche der Familienplanung wie Verhütung, Abtreibung oder künstliche Befruchtung“, erläutern Andrew Tomkins vom University College London und seine Kollegen in einem weiteren „Lancet“-Artikel [Paywall]. „Problematisch sind oft auch Themen wie Sterbehilfe oder die Bereitstellung von sterilen Spitzen oder Kondomen zum Schutz vor HIV.“ Auch Impfungen sind in einigen Religionen ein kontroverses Thema: Manche religiösen Gruppen sind der Auffassung, eine Impfung bedeute Misstrauen in Gott. Einige Muslime befürchten, dass Impfungen Halal-Vorschriften, die erlaubte Dinge und Handlungen definieren, widersprechen. „Auf der anderen Seite gibt es auch viele Beispiele dafür, dass religiöse Führer Impfungen unterstützen und durch ihr Engagement zu einer hohen Impfrate beitragen können“, so Tomkins und sein Team. So predigten islamische Imame in Pakistan in einem UNICEF-Kooperationsprojekt [Paywall] die Vorteile einer Polio-Impfung – und konnten so zu Tausenden von Impfungen beitragen.
Darüber hinaus gibt es umstrittene Praktiken, die von einigen Religionen vertreten oder zumindest nicht explizit angelehnt werden – zum Beispiel die Verheiratung von Kindern, Gewalt gegen Frauen, die weibliche Genitalbeschneidung oder die Ablehnung von Homosexualität. Solche Handlungen können sich direkt oder indirekt auf die Gesundheit der Betroffenen auswirken. „Allerdings gibt es in vielen großen Religionen wie Christentum, Judentum, Islam oder Hinduismus Bestrebungen, solche problematischen Praktiken zu reduzieren“, betonen die Forscher um Tomkins. „Viele religiöse Führer setzen sich zusammen mit den Gemeinden dafür ein, die Genitalverstümmelung abzuschaffen, Kinderehen zu verhindern oder die Diskriminierung Homosexueller zu verurteilen“, sagt Tomkins. Auch Stellungnahmen einflussreicher religiöser Oberhäupter könnten viele Menschen erreichen – so etwa eine Rede des Erzbischofs Desmond Tutu, in der er sich gegen Unterdrückung und Gewalt gegen Frauen aussprach. Einige Experten sehen es generell als kritisch an, wenn im Rahmen der Gesundheitsversorgung bestimmte religiöser Werte vertreten werden. Dass religiöse Gesundheitseinrichtungen bevorzugt Angehörige ihres eigenen Glaubens behandeln, hat sich in verschiedenen Studien [Paywall] zwar nicht nachweisen lassen. Problematisch kann jedoch der Umgang mit Gebeten und anderen religiösen Zeremonien sein. „In vielen Krankenhäusern sind Gebete und religiöse Aktivitäten strikt geregelt“, berichten Tomkins und sein Team. „In einigen Ländern ist es aber durchaus üblich, für Patienten zu beten, religiöse Heilungszeremonien durchzuführen oder medizinische mit traditionellen – zum Beispiel buddhistischen – Heilmethoden zu kombinieren.“ Das könnte dazu führen, dass die bestmögliche Behandlung verzögert oder ganz verhindert wird.
Zentrale globale Gesundheitsziele hat die UN in ihren Millenium Development Goals (MDG) und Sustainable Development Goals (SDG) definiert. Um diese Ziele zu erreichen, sollten in Idealfall alle Gesundheitsversorger einbezogen werden, schreiben Jean Duff und Waren Buckingham von der „Partnership for Faith and Development“ in Washington DC (USA). Dabei sei es wichtig, tragfähige Partnerschaften zwischen den verschiedenen Gesundheitseinrichtungen zu fördern. „Unterschiedliche moralische und ethische Auffassungen sollten dabei sorgfältig erfasst und Lösungen für den Umgang damit erarbeitet werden“, so Duff und Buckingham. „Um einen möglichst hochwertigen Beitrag zur Gesundheitsversorgung zu leisten, sollten sich religiös ausgerichtete Einrichtungen genauso an der evidenzbasierten Medizin orientieren wie andere Gesundheitsanbieter“, betonen William Summerskill und Richard Horton in einem Kommentar. Zudem sollten missionarische und andere religiöse Aktivitäten strikt von Aufgaben der Gesundheitsversorgung getrennt werden. Wichtig sei zudem weitere Forschung, um die Rolle glaubensbasierter Einrichtungen im Gesundheitssystem genauer zu verstehen, mögliche Probleme zu erkennen und effektive Möglichkeiten der Zusammenarbeit zu erarbeiten.