Die Akute Lymphoblastische Leukämie (ALL) kann in verschiedenen Formen auftreten, die sich durch Veränderungen im Erbmaterial der Krebszellen voneinander unterscheiden. Nun wurde das Genom des bislang unheilbaren t(17;19)-Subtyps entschlüsselt und analysiert.
Besonders ungünstig ist eine spezielle, sehr aggressive Form der Akuten Lymphoblastischen Leukämie (ALL), die durch eine t(17;19)-chromosomale Translokation gekennzeichnet ist. Dieser Defekt entsteht durch Bruch und fehlerhafte Neuverknüpfung des Erbmaterials des Tumors und führt zur Bildung eines neuen onkogenen Proteins, das jeweils von Teilen der Gene TCF3 und HLF kodiert wird (TCF3-HLF-positive Leukämiezellen). Bislang war nicht klar, warum diese spezifische Form der Leukämie im Gegensatz zu anderen ALL-Formen nicht auf Therapieversuche anspricht. Ziel einer internationalen Gruppe um Marie-Laure Yaspo des Berliner Max-Planck-Instituts für molekulare Genetik war es daher, die molekularen Unterschiede zu identifizieren, die für die fehlende Reaktion des t(17;19)-Subtyps auf Behandlungsversuche verantwortlich sein könnten.
Zu diesem Zweck haben die Wissenschaftler nun nicht nur das Genom dieses bislang unheilbaren Subtyps der ALL entschlüsselt und mit komplexen bioinformatorischen Methoden analysiert, sondern auch das Transkriptom, also diejenigen Bereiche des Erbmaterials, die in den Tumorzellen in RNA übersetzt werden. Sie fanden heraus, dass zusätzlich zu den zwei bereits bekannten fehlerhaft zusammengelagerten Genen noch andere DNA-Bereiche charakteristisch verändert sind. Änderungen wurden aber nicht nur auf der Ebene der DNA des Tumors gefunden. Die Entschlüsselung der RNAseq lieferte wichtige neue Erkenntnisse über die Krankheitsmechanismen und Ansatzpunkte für gezielte Therapien. „Die Expressionsprofile zeigen uns die tatsächlich vorhandene Menge an Boten-RNA (mRNA) in den Zellen. Sie sagen uns also, welche Gene in den Leukämiezellen wirklich aktiv und damit am Krankheitsgeschehen beteiligt sind“, erklärt Yaspo.
In den untersuchten Leukämiezellen konnten die Forscher die Aktivität von fehlerhaft exprimierten Genen sowie spezifisch aktivierte Gennetzwerke nachweisen, welche die Entwicklung bestimmter Abwehrzellen des Blutes, der sogenannten B-Lymphozyten, steuern und das Zellwachstum fördern. Das Zusammenspiel der fehlerhaften Fusion von TCF3 und HLF und der Änderungen der Expression bestimmter Gene führt zu einer bislang nicht beobachteten Rückentwicklung der Leukämiezellen auf eine sehr frühe, stammzellartige Entwicklungsstufe. Die äußere Erscheinung der Zellen ist dabei allerdings nicht verändert. „Diese Erkenntnisse wären nicht möglich ohne die Analyse der Genexpression, also der RNA-Botenmoleküle, die in den Tumorzellen gebildet werden. Diese wichtige Technik erlaubt uns nicht nur ein tieferes Verständnis des genetischen Programms, das das Verhalten der Tumorzellen steuert, sondern kann uns auch Informationen über neue Therapiemöglichkeiten liefern“, so Yaspo.
Für weitergehende Untersuchungen haben Forscher Leukämiezellen von erkrankten Kindern in Mäuse transplantiert. Die Wissenschaftler konnten nachweisen, dass die in der Maus wachsenden menschlichen Leukämiezellen nicht nur die maßgeblichen genetischen Veränderungen, sondern auch das Expressionsprofil des Tumors behalten. Die Zellen verhalten sich also in der Maus sehr ähnlich wie im Menschen. Sie bilden damit eine wirklichkeitsnahe Möglichkeit, neue Therapien patientenorientiert zu prüfen. Mithilfe der Mausmodelle hat die Forschungsgruppe fast hundert neuartige Medikamente getestet, von denen einige eine starke Wirkung auf TCF3-HLF-positive Leukämiezellen gezeigt haben. Ein Beispiel dafür ist das Medikament Venetoclax, das sich spezifisch gegen das für den programmierten Zelltod relevante Protein BCL2 richtet und bereits bei anderen Krebsarten Wirkung gezeigt hat. Im Mausmodell führte Venetoclax zu einem deutlichen Rückgang der Erkrankung, gefolgt von langanhaltenden Phasen ohne Krankheitszeichen, wenn es zusammen mit einer herkömmlichen Chemotherapie für Leukämien verabreicht wurde. Originalpublikation: Genomics and drug profiling of fatal TCF3-HLF−positive acute lymphoblastic leukemia identifies recurrent mutation patterns and therapeutic options Ute Fischer et al.; Nature Genetics, doi:10.1038/ng.3362; 2015