Die Infektionszahlen steigen wieder, auch auf dem Land. Einige Dinge nerven mich als Landärztin in diesem Corona-Herbst. Genau gesagt sind es fünf.
Corona ist wieder da. Wie in so vielen anderen Regionen in Deutschland auch, steigen in unserer Gegend die Corona-Fälle wieder massiv an. Da wir auf dem Land sind, hat es etwas länger gebraucht, aber (soweit das für mich hausärztlich nachvollziehbar ist) jetzt haben sich mehrere Leute auf der Arbeit angesteckt und das Virus „nach Hause gebracht“.
Aber im Gegensatz zum Frühjahr, in dem alle verunsichert waren, weil man einfach kaum etwas über das Virus wusste und nur die schrecklichen Bilder aus China und Italien kannte, ist das Virus jetzt insgesamt viel politischer.
Da wir schon in der ersten Welle wie erwähnt viele Fälle und leider damals auch recht viele Todesfälle hatten, haben wir glücklicherweise so gut wie keine Diskussionen über die allgemeinen Maßnahmen wie Masken, Abstand, etc. Es gibt aber mehrere Sachen, die mich jetzt im Herbst definitiv nerven:
1. Zuständigkeitsprobleme
Im Frühjahr wurde erstmal sehr lösungsorientiert gehandelt, frei nach dem Motto: „Erstmal helfen wir, z. B. mit Abstrichzentren. Die genauen Details klären wir später, bis dahin arbeiten wir gemeinsam am selben Ziel.“ Jetzt gibt es extrem viel Zuständigkeitsprobleme: Wen dürfen/sollen wir abstreichen? Werden wir dafür bezahlt und wenn ja, von wem? Wir haben allen Ernstes bis zu 8 verschiedene Formulare für den Abstrich gehabt! Das sorgt dafür, dass man eine medizinische Fachangestellte fast nur für die Formalien braucht.
2. Abstrich-Diskussionen
Nicht alle Kollegen können/möchten abstreichen. Das mag ja alles seine Gründe haben (Arzt ist selbst Risikoperson, schlechte räumliche Begebenheiten, zu viel Aufwand, hab ich alles schon als Begründung gehört …), aber es macht für die Praxen, die abstreichen, es doch echt schwierig. Wir hatten jetzt mehrfach verzweifelte Anrufe von Eltern, weil bei den Kinderärzten ja doch eher restriktiver abgestrichen wird. Was ich bei klassischem Schnupfen ohne Kontakt zu Corona-Patienten auch verstehen kann. Aber wenn ein K1-Kontakt besteht, ist das schon deutlich schwieriger.
Ja, Kinder abstreichen klappt oft sehr gut (besser als erwartet), aber manchmal auch nicht. Und natürlich will man auch nicht die Böse sein, die dann den Abstrich durchziehen muss. Ich selbst hab letzte Woche ein Kind (ohne Symptome, aber nach Rückkehr aus Risikogebiet) nicht abgestrichen, weil es so gebrüllt hat und ich eine Zweijährige nicht zwingen wollte. Dann müssen die Eltern sich halt zwei Wochen um Quarantäne kümmern. Das kann ich bei dem generellen Patientenaufkommen nicht leisten.
3. Amt antwortet nicht
Das Gesundheitsamt ist mindestens genauso schlecht zu erreichen wie im Frühjahr. Eher schlechter, glaube ich manchmal. Warum gibt es keine ärztliche Durchwahl, wenn wir mal wirklich fragen müssen? Wir lösen schon 99 % der Probleme alleine. Aber teilweise berichten uns die Patienten auch wirklich seltsame Ansagen vom Gesundheitsamt (z. B. K1-Kontakt, der nach einem Abstrich nach 5 Tagen aus Quarantäne dürfe, etc.), wo wir dann auch überlegen müssen, was wir tun.
Quarantäne ist eindeutig Sache des Gesundheitsamtes. Aber ich werde zumindest immer versuchen, diese Patienten davon zu überzeugen, dass es sinnvoller ist, sich nochmal zu vergewissern, weil das andere einfach allem widerspricht, was eigentlich empfohlen wird.
4. Mehraufwand für Ärzte
Jetzt sollen wir auch durch die Rahmenverträge das Gesundheitsamt weiter entlasten und beispielsweise selbst asymptomatische K1-Kontakte abstreichen dürfen. Wir sagen auch den Corona-Patienten direkt, wenn wir sie wegen des positiven Abstrichs anrufen, dass sie schon mal eine Liste mit ihren Kontakten erstellen sollen, damit das Gesundheitsamt nicht mehrfach anrufen muss.
5. Contact Tracing als wichtigste Maßname
Der absolute Gipfel für mich persönlich war aber vergangene Woche mal wieder ein Politiker-Statement dazu: „Das Contact Tracing ist die wichtigste Maßnahme gegen das Coronavirus.“
Moooment – das möchte ich hier nochmal klarstellen:
Das Contact Tracing KANN helfen, eine laufende Kette zu unterbrechen, wenn ich jemanden noch in der Inkubationsphase unter Quarantäne stelle. Das würde aber bedeuten, dass a) unsere Corona-Patienten wirklich zeitnah angerufen würden und dann b) die Kontaktpersonen auch sofort kontaktiert würden.
Unsere Erfahrung hier: Klappt nicht. Bei den explodierenden Zahlen ist das Gesundheitsamt völlig überlastet, der früheste Kontakt mit den positiv getesteten Patienten erfolgt frühestens nach 24–36h. Und der Test selbst hat ja auch schon so lange gedauert. Das heißt, die K1er, die mein Patient angesteckt hätte, sind schon selbst möglicherweise wieder infektiös. Die hat aber noch gar keiner angerufen! Das passiert dann wieder 2–3 Tage später. Dann sind wir an Tag 6–8 nach Diagnosestellung des initialen Kontaktes! Falls Symptome auftreten, sind die dann meistens da.
Wir hatten jetzt auch mehrfach die Konstellation, dass zum Zeitpunkt des Anrufs vom Gesundheitsamt die K1er schon symptomatisch waren. Praktisch für das Gesundheitsamt, weil es Patienten dann direkt zu uns zum Abstrich schicken und sich nicht selbst kümmern müssen. Aus infektiologischer Sicht aber völliger Blödsinn, weil man ja bekanntermaßen schon bis zu 48h vor Symptombeginn ansteckend sein kann. Und die nächste Generation an Kontaktpersonen wird ja auch nicht schneller kontaktiert.
(Bitte kurz als Anmerkung: Mir ist absolut klar, dass die Gesundheitsämter das nicht absichtlich machen, sondern weil sie selbst völlig überlastet sind. Aber das ist genau mein Punkt: Diese Überlastung wäre meines Erachtens nach vermeidbar bzw. zu vermindern gewesen, wenn man sich im Sommer gekümmert hätte.)
Entweder, ihr stockt die Gesundheitsämter in jeder Hinsicht (personell und technisch) so auf, dass sie diesem zeitnahen Contact Tracing auch wirklich nachkommen können, oder ihr erzählt nicht, dass Contact Tracing wirklich gegen Corona hilft. Das tut es so, wie es jetzt durchgeführt wird, nämlich nicht. Es hilft nur, rückblickend Ketten nachzuvollziehen, aber das halte ich an diesem Zeitpunkt für akademisch und nicht hilfreich.
So bitter das für uns alle (wieder) ist: Gegen die Ausbreitung helfen aktuell vor allem Abstand und Masken. Das ist umso schwieriger in der kalten Jahreszeit, wenn man sich mehr drinnen aufhält, aber so ist es nun mal.
Deswegen darf ich vielleicht heute mal mit einem Liedzitat enden, das ich sehr passend finde – ok, das mag daran liegen, dass ich in meiner Jugend schon für die Band geschwärmt habe ;-) – „When you can‘t do what you do, you do what you can.“
Bildquelle: Taymaz Valley, flickr