Seit die US-amerikanischen Fachgesellschaften den Grenzwert für Bluthochdruck gesenkt haben, gehen hierzulande die Meinungen auseinander. Soll der neue Richtwert auch bei uns gelten? Nein, sagt Jürgen Bauer stellvertretend für die Geriater: nicht für alle Patientengruppen.
Jeder dritte Deutsche leidet nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) unter Hypertonie, unter den 70- bis 79-Jährigen sind es sogar drei Viertel. Bluthochdruck muss behandelt werden, denn er gilt neben ungesunder Ernährung und Übergewicht als ursächlich für die koronare Herzerkrankung, Herzinsuffizienz und Schlaganfall sowie Demenz und Niereninsuffizienz. Nun sorgen die Ergebnisse einer in den USA veröffentlichten Studie für Diskussionen in der Fachwelt: Im Kern besagt die SPRINT-Studie, dass ein systolischer Zielwert von weniger als 120/80 mmHg für Bluthochdruckpatienten günstiger ist als die bisher gültigen 140/80. Die Studie hatte gezeigt, dass bei Hochrisiko-Patienten bei niedrigeren Blutdruckwerten mit rund 120 für den oberen Wert langfristig die Wahrscheinlichkeit für einen Schlaganfall oder gar ein Todesereignis gesenkt werden. Die US-Kardiologenvereinigungen American Heart Association (AHA) und American College of Cardiology Guidelines (ACC) haben entsprechend im November 2017 ihre Hypertonie-Leitlinien aktualisiert. Schon ab einem Blutdruck von 130/80 liegt demnach ein Bluthochdruck vor. Nicht für alle Patientengruppen seien die neuen US-Werte geeignet, sagt Jürgen Bauer. Nun warnt die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG): „Wir haben sowohl praktische Erfahrungen als auch wissenschaftliche Hinweise darauf, dass man Blutdruckeinstellungen im Alter differenziert betrachten muss“, sagt deren Präsident Jürgen Bauer, ärztlicher Direktor am Agaplesion Bethanien Krankenhaus Heidelberg: „In der neuen amerikanischen Leitlinie sehen wir Geriater eine zu starke Vereinheitlichung der Therapie. Es ist uns ein Anliegen, dass durch die unkritische Anwendung keine Vereinfachung der Situation geschieht.“ Die amerikanische Leitlinie habe einen großen Einfluss und beruhe auf umfangreichen Recherchen. Dennoch müsse sie kritisch gesehen werden: „Zwar hat die neue SPRINT-Studie auch eine Gruppe älterer, angeblich gebrechlicher Patienten inkludiert“, so Bauer. Dennoch sei zu hinterfragen, wie gebrechlich diese Patienten tatsächlich gewesen seien und welche Form der Blutdruckmessung eingesetzt worden sei: „Die Daten der SPRINT-Studie basieren auf Selbstmessungen. Studien, deren Messungen von medizinisch geschulten Personal durchgeführt werden, kommen zu anderen Ergebnissen. Es gab also methodische Kritik an dieser Studie, die die neuen Leitlinien getriggert hat“, sagt der Geriater.
„Wenn man das erstrebenswerte Blutdruckniveau generell auf 130/80 absenkt, ist das im Hinblick auf ältere Menschen zu einfach, denn hier haben wir ganz unterschiedliche Patientengruppen. Es gibt solche, die rüstig sind, an sozialen Aktivitäten teilnehmen und Sport treiben“, so Bauer. Andere seien aber gebrechlich, stünden vielleicht am Ende ihres Lebens, lebten in Pflegeheimen oder würden zuhause durch soziale Hilfsdienste versorgt. „Diese Patienten weisen eine ganze andere körperliche Konstitution und unterschiedliche Problemkonstellationen auf. Wir möchten darauf aufmerksam machen, dass die neuen Leitlinien möglicherweise auf rüstige Patienten zutreffen, nicht aber auf die Gruppe der behinderten oder gebrechlichen Menschen“, sagt der Geriater. “Diese Patienten haben nur noch eine eingeschränkte Lebenserwartung. Es ist wahrscheinlich, dass viele von ihnen einen statistischen Effekt, der durch eine Blutdruckeinstellung auf 130/80 erfolgt, gar nicht mehr erleben.“ Aus anderen Untersuchungen sei bekannt, dass bei vielfach erkrankten hochbetagten Patienten eine intensivere Blutdrucksenkung mit vielen Problemen einhergehe, heißt es in einer Erklärung die DGG: Der niedrige Blutdruck bedeute eine größere Sturzgefahr und damit auch eine größere Gefahr, eine Fraktur zu erleiden. Zudem gehe ein niedriger Blutdruck bei diesen Patienten mit einer erhöhten Sterblichkeit einher. „So haben Altenheimbewohner, deren Blutdruck mit zwei oder mehr Blutdruck senkenden Präparaten auf <130 mmHg gesenkt wurde, eine um 78 Prozent höhere Sterblichkeit als Bewohner, die nur ein Mittel zur Blutdrucksenkung erhielten und deren Blutdruck bei > 130 mmHg lag“, so die DGG.
Bauer sagt, es gebe ein Kollektiv älterer Menschen, das die Geriater hinsichtlich einer straffen Blutdruckeinstellung sehr kritisch sähen: „Der systolische und der diastolische, also der obere und der untere Blutdruckwert, gehen im Alter auseinander. In unserer Bevölkerung haben wir einen systematischen Anstieg von systolischen, also oberen Blutdruckwerten, bei einem gleichzeitigen Absinken der unteren Blutdruckwerte.“ Das bedeute, das Intervall zwischen oberer und unterer Werte nehme im Alter zu, so der Experte weiter: „Wenn sie oben sehr strenge Blutdruckwerte einstellen, können sie unter Umständen ungewollt sehr niedrige diastolische Blutdruckwerte bewirken, weil sie diese mit herunterziehen. So ist unsere Sorge, dass es bei einer strengen Blutdruckeinstellung insbesondere bei gebrechlichen älteren Patienten Probleme mit der Orthostase gibt.“ Wenn der Blutdruck zu streng eingestellt werde, könnten solche Patienten bewusstlos werden, wenn sie aufstünden, weil der Kreislauf instabil werde“, sagt Bauer. Man wisse auch, dass bei Hochbetagten bei strenger Einstellung und bei niedrigen diastolischen Blutdruckwerten ein höheres Risiko drohe, dass die Niere nicht gut perfundiert sei und dadurch Nierenfunktionsstörungen auftreten könnten.
„Wir warnen davor, bei unsicheren Therapieergebnissen bei einer Gruppe, die wahrscheinlich keine allzu hohe Lebenserwartung mehr hat, so strenge Einstellungen vorzunehmen. Der statistische Effekt ist erst in Jahren zu erwarten“, so Bauer: „Das ist die Kernkritik.“ Seiner Meinung nach müsse man die Erfahrungen aus der Geriatrie im Umgang mit diesen gebrechlichen älteren Patienten gegenüber der „vielleicht etwas überengagierten Leitlinie dominieren lassen“, sagt Bauer. Dafür seien vielleicht die realen Zahlen nicht gut genug, die bisher Eingang in die wenigen Studien von Blutdruckeinstellung bei gebrechlichen Patienten in Altenheimen gefunden hätten. Die Medizin könne längst nicht alle Fragen zu Blutdruckeinstellungen bei älteren Menschen beantworten. „Wir haben ein Wissensdefizit bei Menschen im Pflegeheim oder mit Gebrechlichkeit bezüglich der richtigen Blutdruckwerte. Da gibt es durchaus noch offene Fragen. Darum müssen wir hier besonders vorsichtig sein.“