Der Ethikrat – ein Kränzchen mit vielen akademischen Theoretikern. Aber braucht es zur Beantwortung der großen Fragen nicht auch Pflegekräfte und Sozialarbeiter? Sie kennen die Realität.
Wenn es um die großen Fragen des Lebens geht, dann ist der Deutsche Ethikrat nicht weit. Mit seinen Stellungnahmen und Empfehlungen gebe er Orientierung für Gesellschaft und Politik. So definiert sich das Gremium selbst.
Gestern war es mal wieder so weit. Es ging um eine große Frage: Der Ethikrat hat über das Recht auf assistierte Selbsttötung diskutiert. Es ist eine Debatte über die Folgen eines Verfassungsurteils, wonach auch der assistierte Suizid in Deutschland grundsätzlich ermöglicht werden muss.
Zwei Wochen zuvor ging es ebenfalls um eine große Frage: Wie sieht es mit der Impfpflicht bei Corona aus?
„Es wird keine allgemeine Corona-Impfpflicht geben. Da bin ich mir sicher“, sagte Alena Buyx, Vorsitzende des Ethikrats. „Man kann sich – wie wir in einer früheren Stellungnahme zur Masernimpfung gesagt haben – lediglich eng berufsbezogene Impfvorgaben vorstellen.“
Dass es in der Causa Masern letztlich anders kam, ist allen bekannt. Daran sieht man, dass der Ethikrat nur Empfehlungen ausspricht. Aber dennoch ist die Autorität des Ethikrats groß. Politiker hören auf die Empfehlungen und deshalb stört es mich, dass die Zusammensetzung so wenig repräsentativ für die Bevölkerung ist.
Dazu ein Blick auf das Gremium. Der Ethikrat besteht aus 24 Mitgliedern. Sie werden je zur Hälfte von der Bundesregierung und vom Bundestag berufen. Ihre Ernennung erfolgt für vier Jahre. Doch die Auswahl überrascht. Beispielsweise sind Repräsentanten der großen Religionen vergleichsweise oft vertreten:
Außerdem sind erstaunlich viele Juristen an Bord.
Hinzu kommen einzelne Wissenschaftler und Experten der Medizinethik. Ob diese Konstellation ihrer eigentlichen Aufgabe, Pluralität bei ethischen Fragen der Lebenswissenschaften abzubilden, gerecht wird, ist für mich fragwürdig.
Es fehlen Menschen, die schwerwiegende Entscheidungen in ihrem Alltag treffen müssen, beispielsweise Palliativmediziner, Gynäkologen, Pflegekräfte, Personen, die an Katastropheneinsätzen teilgenommen haben oder Sozialarbeiter. Sie kennen die Realität, im Gegensatz zum Kränzchen mit vielen akademischen Theoretikern.
Angesichts solcher Defizite erklären sich seltsame Stellungnahmen der letzten Jahre.
Die strenge Argumentation des Gremiums gegen Sterbehilfe, noch vor Buyx' Zeiten, wurde vom Bundesverfassungsgericht übergangen. „Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (…) umfasst ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben“, so die Richter. „Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und hierbei auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen.“ Ein Blick hinter die Kulissen zeigt, dass dieses Gremium keineswegs so wertneutral ist, wie es sich den Anschein gibt.
Kein Einzelfall: Beim Thema Präimplantationsdiagnostik (PID) sprachen sich 11 Mitglieder für ein striktes Verbot und 13 für eine streng begrenzte Zulassung aus. Hinzu kamen eine Enthaltung und eine Enthaltung. Zuvor hatte der Bundesgerichtshof entschieden, eine PID zum Nachweis schwerer genetischer Schäden sei nicht strafbar. Ein Gesetz, das PID bei hohen Risiken für schwerwiegende Erbkrankheit oder schwerwiegende Schädigung des Embryos erlaubt, folgte. Über jeden Einzelfall entscheiden Ethikkommissionen der Länder. Für Betroffene heißt das: Wer Geld hat, fuhr vor Corona ins Ausland, beispielsweise in die USA. Dort gibt es keine bundesstaatlichen Regelungen zur PID.
Auch die Einschätzung zur anonymen Abgaben von Kindern, falls Frauen in Not sind, stieß bei Ärzten auf wenig Verständnis. Demnach solle man Hilfe und Vorsorge für Mütter ausbauen – ein frommer Wunsch – aber Babyklappen und Möglichkeiten der anonymen Geburt besser dicht machen. Das Risiko möglicher Kindstötungen rangierte hier wohl unter ferner liefen.
Deutlich positiver nahm die Community eine Stellungnahme zu Jens Spahns Idee, Immunitätsausweise einzuführen auf. Der Ethikrat hat auf rund 50 Seiten seine Bedenken geäußert. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie lange neutraliserende Antikörper oder Gedächtniszellen vor Reinfektionen schützen.
Aktuell hat das Gremium zwar Recht. Doch sobald es mehr Daten gibt, etwa aus Impfstoff-Studien, könnte sich die Lage komplett ändern. Bei Corona ist nichts in Stein gemeißelt.
Trotz aller Skepsis bin ich der Meinung, Deutschland braucht eine Ethikkommission. Denn die Fragen rund um neue Technologien oder um die Versorgung am Lebensende werden immer komplexer. Es kann aber keine Lösung sein, ein solches Gremium vom Bundestag und Bundesrat anhand politischer Präferenzen zu besetzen. Wir brauchen Experten aus der Praxis.
Bildquelle: Juli Kosolapova, unsplash