Die Corona-Fallzahlen steigen, die Lage in den Gesundheitsämtern spitzt sich weiter zu. Viele kommen bei der Nachverfolgung von Infektionsketten nicht mehr hinterher. Was läuft schief?
Die knapp 400 Gesundheitsämter in Deutschland haben sich in der Corona-Pandemie zu einer Schaltzentrale entwickelt, in der alles zusammenläuft. Die Mitarbeiter verfolgen Kontakte von Corona-Infizierten, betreuen Menschen in Quarantäne, entnehmen Abstriche für Tests. Sprich: Sie sind mit dafür verantwortlich, die Infektionsketten zu durchbrechen. Ein erheblicher Mehraufwand im Vergleich zur Zeit vor Corona, den nicht mehr alle Ämter stemmen können.
Berlin ist eines von fünf Gebieten in Deutschland, das mittlerweile Kapazitätsengpässe gemeldet hat. Das geht aus einem internen Lagebericht des Bundesgesundheitsministeriums von Montag hervor, das dem Tagesspiegel vorliegt. „Die Durchführung von Infektionsschutzmaßnahmen ist absehbar nicht mehr sichergestellt“, heißt es darin wörtlich. Auch der Landkreis Pinneberg (Schleswig-Holstein), der Lahn-Dill-Kreis und Kreis Offenbach (Hessen) und der Landkreis Esslingen (Baden-Württemberg) haben Engpässe gemeldet.
An das RKI übermittelte COVID-19-Fälle innerhalb der letzten 7 Tage in Deutschland nach Kreis und Bundesland, Stand 12.10.2020, Quelle: RKI
Das liegt vor allem am Personalmangel. Während des Lockdowns im Frühjahr wurden die Gesundheitsämter noch durch freiwillige Helfer unterstützt. Diese Helfer sind mittlerweile aber wieder an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt. Auf Anfrage von DocCheck erklärte das Bezirksamt Mitte (Berlin): „Personaltechnisch arbeiten wir mit etwa einem Viertel des Personals, welches uns im April zur Verfügung stand. Wir schaffen aufgrund der rasant steigenden Zahlen insbesondere im Bezirk Mitte keine zeitnahe Bearbeitung“. Bislang wurde eine häusliche Quarantäne in jedem Einzelfall noch vom Gesundheitsamt angeordnet. Dies kann nun allerdings nicht mehr gewährleistet werden.
Das Bezirksamt Mitte zieht deshalb jetzt Konsequenzen – und ändert seine Strategie mit einer neuen Allgemeinverfügung, die die häusliche Quarantäne in den Bezirken Mitte und Neukölln regelt. In diesen Bezirken muss die Isolation jetzt nicht mehr in jedem Einzelfall vom Gesundheitsamt angeordnet werden. Betroffene sind selbst verpflichtet, sich in Isolation zu begeben, sobald sie positiv auf das Coronavirus getestet wurden.
Das Gleiche gilt für deren direkte Kontaktpersonen und für Menschen, die Erkrankungsanzeichen zeigen, die auf eine Infektion hindeuten und für die ein Corona-Test angeordnet wurde. Das soll die Mitarbeiter entlasten. Wie effektiv diese Maßnahme für die Eindämmung des Infektionsgeschehens ist, bleibt abzuwarten.
Schon im September wurde das Robert-Koch-Institut (RKI) von den Gesundheitsämtern in Berlin um Amtshilfe gebeten. Das RKI entsendet jetzt Mitarbeiter des Instituts an die Gesundheitsämter der Bezirke. Sie sollen bei der Kontaktverfolgung helfen, aber auch bei der Abstrichentnahme. Die Bundeswehr und Mitarbeiter des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen könnten ebenso hinzugezogen werden.
Auch in Köln, das seit einigen Tagen Corona-Risikogebiet ist, gibt es Probleme. „Die Leute hier arbeiten am Anschlag“, sagt uns Hendrik Witt*, ein Mitarbeiter des Gesundheitsamts Köln. Viel Arbeit werde von Medizinstudenten abgefangen. Manch einer habe sein Studium zeitweise unterbrochen, um in Vollzeit da sein zu können. „Trotzdem war es teilweise nicht möglich, alle Kontaktpersonen zeitnah telefonisch zu erreichen“, sagt er. Zwischenzeitlich hing man eine Woche hinterher bei der Benachrichtigung von Kontaktpersonen.
Deswegen hat man auch in Köln die Notbremse gezogen. Und sich für eine neue Strategie entschieden. Es werden nur noch die nachweislich positiv getesteten Personen angerufen. Kontaktpersonen 1. Grades werden nun per Mail benachrichtigt. Das ginge zwar erstmal schneller, sei aber auch nicht die optimale Lösung, wie uns Witt berichtet. „Die Leute schreiben massenhaft Rückfragen auf diese Mails, aber es ist kaum jemand da, der sie beantworten kann“, bemängelt er. Kontaktpersonen 2. und 3. Grades werden gar nicht von dem Gesundheitsamt benachricht.
Im Risikogebiet Stuttgart spitzt sich die Lage ebenfalls immer weiter zu. Seit dem 11. Oktober ist eine lückenlose Nachverfolgung der Kontakte durch das zuständige Gesundheitsamt nicht mehr zu gewährleisten, wie die Stadt in einem Schreiben an die DocCheck Redaktion mitteilt. Die Stadt greift jetzt auf den verwaltungsinternen Pandemie-Pool mit über 100 Mitarbeitern zurück.
Zusätzlich hat sie die Bundeswehr um Hilfe gebeten. „Wenn die Kontakte nicht mehr nachverfolgt werden können, droht der Kontrollverlust in der Pandemie und eine unüberschaubare Ausbreitung des Virus“, heißt es aus Stuttgart.
Ähnlich kritisch sieht auch Karl Lauterbach, Bundestagsabgeordneter und Gesundheitsexperte der SPD, die Entwicklung zu einer mangelhaften Kontaktverfolgung. In seinem Tweet bezieht er sich auf die Lage in den Niederlanden.
Nicht nur zu wenig Personal führt momentan zu massiven Problemen auf den Ämtern. Laut Hendrik Witt hapert es auch an ausreichend großen Räumlichkeiten für mehr Arbeitsplätze. Außerdem fehle in einigen Bereichen eine moderne IT-Struktur. „Es stimmt, dass in den Gesundheitsämtern noch viel Kommunikation nach außen über das Faxgerät läuft“, sagt Witt. Ein mehr als ungünstiger Umstand in einer Zeit, in der es auf besonders schnelle Weitergabe von Informationen ankommt.
Ein weiterer Punkt ist, dass die Stellenbesetzungsverfahren in den Ämtern oft sehr lange dauern. Im Schnitt dauert es beispielsweise in Berlin 3,5 Monate, bis eine Stelle neu besetzt ist. Als Gründe nennt die Senatskanzlei „uneinheitliche Abläufe und zersplitterte Zuständigkeiten in den einzelnen Dienststellen“.
4 Milliarden Euro extra stellt der Bund bis 2026 zur Verfügung, um den öffentlichen Gesundheitsdienst zu stärken. Das Geld soll in Personal, Digitalisierung und modernere Strukturen fließen.
Zugesproche Unterstützungen der Bundesregierung. Quelle: Bundesregierung Bis Ende kommenden Jahres sollen 1.500 neue Stellen geschaffen werden und bis Ende 2022 mindestens 3.500 weitere Vollzeitstellen. Das ist ein gutes Zeichen, aber die Ämter benötigen sofort Hilfe.
Zwar hat das Robert-Koch-Institut 500 „Containment Scouts“ ausgebildet, damit sie den Gesundheitsämtern bei der Nachverfolgung von Infektionsketten helfen können. Das Programm ist allerdings nur zeitlich begrenzt. Eine neu eingerichtete Kontaktstelle des RKI für den öffentlichen Gesundheitsdienst soll zusammen mit Partnern zur Qualifizierung von neuem Personals beitragen, heißt es in einem gestern veröffentlichten Strategie-Papier des Instituts. Trotz aller Bemühungen bleibt es fraglich, wie gut die Gesundheitsämter in Zukunft mit den möglichen epidemiologischen Szenarien Schritt halten können.
*Name wurde von der Redaktion geändert
Bildquelle: Sigmund, unsplash