Eine bislang kaum beachtete Variable könnte der Schlüssel zur Eindämmung der Corona-Pandemie sein. Und die Rede ist nicht vom R-Wert.
Die SARS-CoV-2-Pandemie mit der Lungenerkrankung COVID-19 lässt Forscher immer noch ratlos zurück, wenn sie versuchen, Unterschiede zu erklären. Unterschiede, warum es in manchen Regionen so viele Todesfälle gab und in einer anderen Region, mit ganz ähnlichen Voraussetzungen, so wenige Todesfälle.
Ein Beispiel ist Quito, die Hauptstadt Equadors:Was führte dazu, dass in Quito zeitweise so viele Menschen starben, dass Leichen nicht mehr abtransportiert werden konnten? Benachbarte Regionen, die nur wenige 100 Kilometer entfernt lagen, waren aber wesentlich schwächer betroffen.
Ein anderes Beispiel ist Italien:Warum gab es in Norditalien, einer wirtschaftlich gut gestellten Region, 25.000 Todesfälle? Während es in fast allen anderen Regionen des Landes verhältnismäßig glimpflich ablief und sich die Gesamtzahl aller Todesfälle (inklusive Norditalien) auf 36.000 beläuft.
Hypothesen gibt es viele. Sie reichen von der Altersstruktur über Vitamin-D-Spiegel bis hin zur Immunität aufgrund saisonal zirkulierender Coronaviren. Doch keine der Vermutungen hielt einer kritischen Überprüfung stand.
Die Lösung könnte in der Epidemiologie, genauer gesagt in der Statistik liegen. Bislang konzentrierten wir uns stark auf die Reproduktionszahl R. Sie gibt bekanntlich an, wie viele Menschen sich bei einem Patienten infizieren, falls es keine Immunität in der Bevölkerung gibt.
Bei R=1,0 infiziert jeder Patient eine weitere Person. Das Ziel, R unter 1,0 zu drücken, lässt das Infektionsgeschehen abebben.
R ist ein durchschnittliches Maß zur Beschreibung der Pandemie, wurde aber zum vermeintlichen Schlüsselfaktor in Pandemiezeiten. Es gibt ständig neue Grafiken, neue Dashboards und neue Experteninterviews. Doch der Wert allein hat seine Schwächen. Denn nicht alle Infizierten stecken gesunde Menschen an.
Hier kommt eine weitere Größe ins Spiel: Der Dispersionsfaktor k. Er gibt Häufungen einer Krankheit an und wird auch als Streuparameter bezeichnet. Er beschreibt, wie häufig eine Krankheit auftritt und inwiefern sie zur Clusterbildung neigt.
Grundsätzlich gilt: Je kleiner k ist, desto mehr Infektionen lassen sich auf eine oder wenige Personen zurückführen. Das bedeutet: Die Rolle von Superspreading-Events ist umso größer.
Schon bei SARS oder MERS fand man solche Unterschiede. In beiden Fällen lag k deutlich unter 1,0, nämlich bei 0,16 (SARS) beziehungsweise 0,25 (MERS). Auch hier infizierten wenige Patienten eine Vielzahl gesunder Menschen. Bei SARS-CoV-2 beträgt der k-Wert etwa 0,54. In allen Fällen entstehen die typischen Cluster.
Influenza folgt diesem Schema nicht. Hier liegt der k-Wert bei ca. 1. Das bedeutet, Superspreader-Ereignisse spielen keine große Rolle.
Das Problem ist nun: Viele Länder haben sich bei ihrer Pandemieplanung an Grippewellen orientiert, die weniger vom Zufall gesteuert werden. Man kann aufgrund der Daten von gestern modellieren, was wahrscheinlich heute oder morgen passiert. Das heißt in Zahlen: Bei der saisonalen Influenza, aber auch bei der retrospektiv gut untersuchten spanischen Grippe, geht man von k=1,0 aus. Es gibt keine Superspreading Events und damit auch keine Cluster.
Es gibt SARS-CoV-2-Ausbrüche, bei denen eine infizierte Person 80 oder mehr Menschen angesteckt hat. Und es gibt eben auch Fälle, in denen es zu keiner Übertragung kommt. Diese ungleiche Verteilung („overdispersion“ in englischsprachigen Papers) bleibt nicht ohne Folgen.
Schätzungen zufolge werden 80 Prozent aller Übertragungen von einem kleinen Teil infektiöser Personen verursacht. Die Rede ist von etwa zehn bis zwanzig Prozent. Ein Großteil der SARS-CoV-2-Positiven überträgt Viren nicht oder nicht in nennenswertem Umfang.
Das führt uns zurück zur Frühphase der Pandemie. Wissenschaftler haben retrospektiv importierte Fälle untersucht, was anhand von Genomanalysen gut möglich war. In Neuseeland wurde das Virus mindestens 277 Mal separat eingeschleppt, aber nur 19 Prozent der Fälle führten zu weiteren Infektionen. Andererseits infizierte die „Patientin 31“, eine Superspreaderin aus Südkorea, mehr als 5.000 Menschen. Das mag überraschen, ist aber nicht neu.
Über mögliche Gründe von Superspreading-Ereignissen ist noch nicht viel bekannt. Meist handelt es sich um Patienten, die viele Viren ausscheiden und die in engem Kontakt mit anderen Personen stehen. Dazu zählen Veranstaltungen in geschlossenen Räumen ohne ausreichende Luftzirkulation. Singen scheint besonders gefährlich zu sein.
Infektionen in Krankenhäusern oder Altenheimen können darauf zurückzuführen sein. Pingpong-Effekte, wenn Infizierte zu spät erkannt und isoliert werden, sich weitere Menschen anstecken und die Erkrankung ihren Lauf nimmt, gelten ebenso als Erklärung.
Kurz gesagt, sind R-Werte nur die halbe Wahrheit. Strategien, die von Grippewellen abgeleitet wurden, eignen sich im Kampf gegen SARS-CoV-2 auch nur teilweise: Sobald Ärzte eine Person positiv getestet haben, versuchen Gesundheitsämter, Kontaktpersonen zu identifizieren und in Quarantäne zu nehmen.
Es wäre aber genauso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger, retrospektiv zu arbeiten, um festzustellen, woher die Infektion gekommen ist. In den meisten Fällen gehen solche Ereignisse von einer einzigen Person aus, die Coronaviren noch auf hunderte, gar tausende Menschen übertragen könnte, falls man sie nicht isoliert.
Berechnungen zeigen, dass retrospektive Tracings die Ausbreitung um den Faktor 2,0 bis 3,0 eindämmen könnte, während man bei der aktuellen Nachverfolgung von Kontakten in der Größenordnung des R-Werts bleibt, aktuell liegt er bei 1,40. Es ist jedoch weder sinnlos noch falsch, weiterhin symptomlose Kontakte zu ermitteln, falls man ausreichende Kapazitäten hat.
Außerdem spricht viel dafür, die medizinische Teststrategie zu überdenken. PCR-Tests haben eine hohe Sensitivität und Spezifität, brauchen aber Zeit. Gerade diese Verzögerung ist bei Superspreadern fatal. Antigen-basierte Schnelltests sind die bessere Wahl.
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Bildquelle: Andrew Ridley, unsplash