Die Apotheke oder die einzige Arztpraxis im Dorf muss schließen. Von einem Tag auf den anderen. Mich regt vor allem auf, dass die Bevölkerung davon erst erfährt, wenn es zu spät ist.
Die Apotheke schließt für immer. Die Patienten stehen vor einer verlassenen Arztpraxis. Für die Patienten und Besucher kommt das fast immer überraschend – überraschender jedenfalls als für Angehörige der Berufsgattung Mediziner oder Apotheker: Wir wissen um die Probleme, mit denen wir zu kämpfen haben.
Die Probleme sind meist die Finanzen einerseits und die Nachfolge andererseits. Trotzdem – man kämpft teils über lange Zeit und versucht die Praxis oder Apotheke zu erhalten. In den letzten Wochen hat sich die Situation aber verschärft, und das nicht nur wegen Corona.
Ich bin Apothekerin in der Schweiz und will hier zwei aktuelle Beispiele beschreiben, die große Auswirkungen haben und noch haben werden.
Man stelle sich vor, man ist Hausarzt, schon lange ansässig, nähert sich vielleicht dem Pensionsalter und sucht (händeringend) eine Nachfolge für die eigene Praxis, auch damit der Ort weiter medizinisch versorgt wird.
Die Situation ist schwierig aber eigentlich finanziell stabil, die Praxis läuft gut, man hat Angestellte, die bezahlt werden müssen, Material muss eingekauft, Laboranalysen gemacht werden – nur einen Nachfolgerarzt, der die Praxis übernehmen will, findet man nicht. Zu wenig Nachfrage? Ort nicht attraktiv genug?
In dieser Situation bekommt man dann ein Angebot der Arzt-Praxis-Kette MeinArzt. Es wird angeboten, dass sie die Praxis und alle Angestellten übernehmen, einen Nachfolger suchen, man selber darf weiter arbeiten, so lange man noch will (einfach als angestellter Arzt, statt als Eigentümer), sie übernehmen zentral einiges der Bürokratie (Abrechnungen, Mietzahlung, Lohnauszahlungen etc.). Praktisch: Alle Probleme gelöst!
35 Arztpraxen in der Schweiz haben das Angebot (seit 2019) angenommen. Mindestens 30 davon sind aktuell geschlossen (für immer?), nachdem in den letzten Monaten zunehmend Probleme aufgetaucht sind. Miete und Löhne und Rechnungen wurden nicht mehr bezahlt, es kam kein Geld mehr herein, Material kam bei jeder Bestellung von einer anderen Firma, die Angestellten in der Zentrale von MeinArzt waren plötzlich nicht mehr erreichbar.
Schließlich sprangen die Mitarbeiter der Praxis ab. Wer arbeitet heute schon unbezahlt? Und die Arztpraxen mussten – meist sehr überraschend – von einem Tag auf den anderen schließen. Patienten kamen oft nicht einmal mehr an ihre eigenen Unterlagen. Einige dieser Praxen waren die einzige Praxis im Ort.
Der Inhaber von MeinArzt – Christian Neuschitzer, ein österreichischer Investor mit etwas zweifelhaftem Hintergrund – hat sich nach Italien abgesetzt, wo er inzwischen verhaftet und wegen Vermögensdelikten angeklagt wurde.
Das ist wirklich übel. Aber „nur“ 35 Praxen (von ca 14.500 in der Schweiz) sind betroffen – wobei ich da den Verlust jeder einzelnen schlimm finde.
Man stelle sich vor, man betreibt eine Apotheke und versorgt täglich an die hundert (oder mehr) Patienten mit den benötigten Arzneimitteln, die vom Arzt verschrieben wurden und die mit den Krankenkassen abgerechnet werden müssen.
In Deutschland kommt zusätzlich noch das Problem dazu, dass die Rezepte und Abrechnungen so korrekt ausgestellt werden müssen, dass die Kasse da nicht auch noch den kleinsten (Form-) Fehler findet und überhaupt nichts daran bezahlt. Das nennt sich Retaxe.
Um den bürokratischen Aufwand kleiner zu halten, nutzen die Apotheken Abrechnungsstellen. Die gibt es in der Schweiz auch (Ofac und Ifak hier) und ohne sie wäre der Aufwand kaum zu bewältigen. Sie sorgen dafür, dass man das Geld bald bekommt – manche der Kassen lassen sich da ziemlich Zeit.
So kann man auch weiterhin Medikamente beim Lieferanten einkaufen. Das ist wichtig, denn für Hochpreismedikamente (die schnell mehrere Tausend Euro kosten können) streckt die Apotheke da faktisch das Geld vor.
Es gibt verschiedene Abrechnungsstellen, aber von den insgesamt 19.075 Apotheken haben rund 3.500 Apotheken die AvP. Diese Apotheken wissen aktuell nicht, ob sie für die in den letzten Wochen eingeschickten und (eigentlich) abgerechneten Rezepte überhaupt noch Geld zurückbekommen.
Ohne das Geld können die Lieferanten nicht mehr bezahlt werden und man kann keine neuen Medikamente einkaufen oder bestellen. Durchschnittlich schuldet die AvP einer Apotheke 120.000 Euro. Mindestens drei Prozent, also 700 Apotheken, sind deshalb in so akuten finanziellen Nöten, dass sie wahrscheinlich demnächst schließen müssen.
Das sind 5.000 Angestellte und auch hier oft Apotheken auf dem Land oder in ländlichen Gebieten, wo es nicht so viele gibt.
Aktuell wird gegen zwei Personen bei der AvP wegen Bankrotts ermittelt. Erklärung: Beim Bankrott handelt es sich um eine betrügerische Insolvenz, vor der Vermögenswerte beiseite geschafft wurden.
Sehr unschön finde ich, dass da von der Politik-Seite so wenig passiert. Auf der einen Seite haben wir Arztpraxen und Apotheken, die gerade in der letzten Zeit sehr viel geleistet haben – und noch werden (ich sag nur Corona). Aber den 35 Praxen in der Schweiz und den (mindestens) 700 Apotheken in Deutschland wird nicht geholfen. Sind wahrscheinlich nicht „too big to fail“ und es gibt ja noch genug. Oder?
Bildquelle: Taylor Brandon, Unsplash