Über sich selbst und andere nachzudenken, ist eine Fähigkeit, die sich nicht „einfach so“ entwickelt, sondern von Kindern durch engen Kontakt zur Bezugsperson erlernt wird. Bei sexuellem Missbrauch ist dieser Mechanismus enorm gestört, wie Forscher herausfanden.
Wie kann ein Kind eigentlich erkennen, was ein anderer sich wünscht und welche Absichten er hat? Kinder lernen es, über sich und andere nachzudenken, indem sie in engem Kontakt mit einer Bezugsperson stehen, die fähig ist, über das Kind nachzudenken. Der Einfachheit halber wird im Folgenden von der „Mutter“ gesprochen, obwohl jede enge Bezugsperson gemeint ist. Wenn eine Mutter in das Gesicht ihres Kindes schaut, dann „markiert“ sie ihren Gesichtsausdruck. Schaut das Kind überrascht, dann imitiert die Mutter den Gesichtsausdruck des Kindes in übertriebener Weise, wie Fonagy und Target in ihrer Studie (1997) zeigten [Paywall]. Sie zieht die Augenbrauen hoch und sagt: „Huch!“ Dabei kann man gut erkennen, dass die Mutter nicht selbst überrascht ist, sondern dass sie das Kind nur nachahmt.
Auch das Kind erkennt den „markierten“, übertriebenen Gesichtsausdruck und bemerkt: Was die Mutter mir zeigt, das bin ich. Die Mutter selbst fühlt sich nicht überrascht. Aber sie zeigt mir, wie ich gerade aussehe. Die Mutter füllt das, was sie dem Baby zeigt, mit Worten: „Da bist du aber überrascht!“, könnte sie sagen. Vereinfacht ausgedrückt: Indem die Mutter ihr Kind behandelt wie einen Menschen, der eine Psyche mit verschiedenen psychischen Zuständen hat, lernt das Kind, sich selbst als einen solchen fühlenden und denkenden Menschen zu begreifen. In dieser feinen Kommunikation kann viel schief laufen. Zeigt ein Kind Angst und ist die Mutter gerade selbst in einem ängstlichen Zustand, dann spiegelt sie dem Kind die Angst so, dass es merkt: Die Mutter hat auch Angst. Das kann bewirken, dass das Kind das Gefühl hat, es hätte die Mutter mit seiner Angst angesteckt. Es wird überflutet von Angst. Reagiert die Mutter jedoch zu wenig auf den ängstlichen Gesichtsausdruck des Kindes, so bekommt das Kind das Gefühl, mit ihm stimme etwas nicht oder es werde mit seiner Angst alleingelassen.
Nicht optimale Kommunikationsmuster kommen immer wieder vor. Sie sind jedoch nicht nur negativ zu bewerten, sondern sie stellen auch Entwicklungsreize dar. Das Kind lernt, sich von der Mutter zu differenzieren. Wichtig im Laufe der Entwicklung ist es, dass die Mutter immer wieder den Bezug zur psychischen Verfassung des Kindes findet. Die Mutter stellt dabei verschiedene Theorien auf, wie es ihrem Kind wohl gehen mag: „Ich glaube, du bist jetzt enttäuscht, weil wir nicht mehr bei der Oma vorbeigeschaut haben“, könnte sie sagen. Sie nimmt Bezug auf die Gefühle und begründet sie. Die Mutter hat eine Theorie über den psychischen Zustand ihres Kindes. Diese Theorie wird auch als „Theory of Mind“ (ToM) bezeichnet. Indem die Mutter Bezug auf das Seelenleben des Kindes nimmt und auch über ihre eigenen Gefühle spricht, schult sie das Kind darin, selbst eine Theory of Mind zu entwickeln und Worte für Gefühlszustände zu finden. Kinder nehmen dieses Beziehungsangebot begierig auf. Ist die Beziehung zur Mutter gut, dann lieben sie es, von ihr in dieser Weise psychisch genährt zu werden. Was aber, wenn die Familie von Gewalt geprägt ist? Was geht in Eltern vor, die ihren Kindern Gewalt antun? Das möchte das Kind nicht wissen. Aber auch die Eltern wollen oder können nicht so genau wissen, was in den gewaltsamen Momenten in ihren Kindern vorgeht. Dies hat fatale Folgen für die Kinder: Zwar sind sie hypervigilant und haben gelernt, die Eltern genau zu beobachten, doch fühlen sie sich nicht wirklich in die Eltern ein. Was die Kinder erkennen würden, wenn sie die mentalen Zustände der Eltern verstehen würden, wäre zu schrecklich. Daher vermeiden sie es, die Eltern zu erforschen. Ähnliches hat bereits der britische Psychoanalytiker Wilfred Bion 1959 beschrieben. Es wirkt dann, als würden die Kinder Lücken im Denken aufweisen. Auch traumatisierte Borderline-Patienten erscheinen einerseits auf eine eigentümliche Weise oft nur wenig fähig zur Empathie. Andererseits erfassen sie rasch, wo die Schwächen des anderen liegen und können treffsichere Bemerkungen machen. Diese Diskrepanz zwischen scheinbar fehlendem Einfühlungsvermögen einerseits und dem Erkennen des anderen andererseits wird als „Krohn's Paradox“ bezeichnet.
Wie reflexionsfähig Kinder sind, die sexuellen Missbrauch erlebt haben, untersuchten nun Karin Ensink und Kollegen. Sie verglichen Kinder, die intrafamiliären bzw. extrafamiliären sexuellen Missbrauch erlitten, mit Kindern, die ohne Missbrauchserfahrungen aufwuchsen. An ihrer Studie nahmen 94 Mutter-Kind-Paare teil. 46 Kinder waren Missbrauchsopfer, 48 Kinder wuchsen „normal“ auf. Von den 46 Opfern hatten 22 intrafamiliären und 24 Kinder extrafamiliären Missbrauch erlebt. Die meisten Opfer waren Mädchen. Am häufigsten waren Väter die Täter, gefolgt von Geschwistern, Stiefvätern und Großvätern. Die gesunden Kinder entstammten aus ähnlichen sozioökonomischen Verhältnissen wie die missbrauchten Kinder. Das Durchschnittsalter der Kinder lag zwischen 9 und 10 Jahren. Alle Mütter und Kinder wurden von geschulten Studienmitarbeitern interviewt. Die Wissenschaftler setzten das Child Attachment Interview (CAI) [Paywall] ein. Das CAI ist ein semistrukturiertes Interview und besteht aus 15 Fragen. Die Kinder sollen dabei erzählen, was sie selbst fühlen und denken, und was ihrer Meinung nach in den engsten Bezugspersonen vorgeht. Die Wissenschaftler kodierten die Aussagen dann mithilfe des Manuals der „Child Reflexion Functioning Scale“ (CRFS). Die Skala enthält die Werte -1 bis 9. Die Mütter wurden mithilfe des Parent Development Interview (PDI) interviewt. Es besteht aus 45 Items und enthält Fragen zu den Vorstellungen, die die Mütter über ihre Kinder und die Beziehung zu ihren Kindern haben. Auch hier ermittelten die Wissenschaftler den Reflective Functioning Score, der ebenfalls von -1 bis 9 reichte.
Kinder, die Mentalisierung vermeiden, geben oft bizarre Antworten. Auf die Frage: „Wann hattest du das letzte Mal Spaß mit deiner Mama?“ kommen Antworten wie „Ich habe ein Video von der Sesamstraße“ oder „Es macht mir Spaß, mit Mama zusammen zu sein.“ Bei fehlender Mentalisierung erhalten die Interviewer oft die Antwort: „Ich weiß nicht“ – zum Beispiel auf die Frage: „Was passiert, wenn dein Papa böse mit dir wird?“ Manche Kinder können auch ausführlich von Erlebnissen mit ihren Eltern berichten, ohne ein einziges Mal auf mentale Zustände einzugehen: „Manchmal gehen wir samstags einkaufen und ich kann mir ein Kleid aussuchen oder Schmuck und dann gehen wir zu McDonald's.“ Eine hohe Mentalisierungsfähigkeit zeigt sich zum Beispiel hier: „Was passiert, wenn deine Mama sich aufregt?“ – „Einmal regte sich meine Mama auf, weil sie dachte, ich hätte ein Geheimnis über sie. Ich wusste nicht, wie ich ihr sagen sollte, dass es nicht um sie geht und wie ich dennoch das Geheimnis für mich behalten könnte. Egal, was ich sagte – sie wurde immer sicherer, dass mein Geheimnis mit ihr zu tun hätte.“
Karin Ensink und Kollegen fanden heraus, dass die missbrauchten Kinder signifikant schlechter reflektieren konnten als die nicht missbrauchten Kinder (Mittelwert = 2,08 bzw. 3,25, p < 0,001). Insgesamt fand sich ein sehr geringer Reflexions-Score bei allen Kindern, was die Autoren darauf zurückführen, dass sie die Kinder der Kontrollgruppe nach einem sozioökonomischen Status ausgewählt hatten, der zu dem Status der missbrauchten Kinder passte. Kinder, die innerhalb der Familie missbraucht wurden, wiesen einen signifikant schlechteren Reflexions-Score auf, als Kinder, die außerhalb der Familie sexuell missbraucht worden waren. Die Autoren erklären sich dies damit, dass die außerfamiliär missbrauchten Kinder in der Familie mit ihren Eltern besser über das Geschehen reflektieren konnten. Kinder von Müttern mit einem niedrigen RF-Score wiesen ebenfalls niedrige RF-Scores auf. Wie sehr die Entwicklung des Kindes vom psychischen Gesundheitszustand der Eltern bzw. der Bezugspersonen abhängt, konnten die Wissenschaftler dieser Studie eindrücklich zeigen. Im Kontext von sexuellem Missbrauch wird Reflexion erschwert. Gleichzeitig findet Missbrauch leichter statt, wenn Erwachsene sich nicht in die Kinder einfühlen können. Ein Teufelskreis. Aus ihm können Kinder entkommen, wenn Erwachsene da sind, die über ihre innere Verfassung nachdenken. Mangelnde Reflexionsfähigkeit kann ein Zeichen dafür sein, dass Kinder in einem Klima aufwachsen, in dem nicht viel über sie nachgedacht wird. Inwieweit andere diesen Mangel ausgleichen können, oder inwieweit die Reflexionsfunktion später noch verbessert werden kann, bleibt weiter zu erforschen. Originalpublikation: Mentalization in children and mothers in the context of trauma: An initial study of the validity of the Child Reflective Functioning Scale Karin Ensink et al.; British Journal of Developmental Psychology, doi: 10.1111/bjdp.12074; 2015