In der Corona-Krise bestellten Kliniken überplanmäßige Mengen des Anästhetikums. Kam es auch hier zu Lieferschwierigkeiten, wie bei so vielen anderen Arzneimitteln? Und welche Strategien helfen gegen die Engpässe?
Eine Lehre aus der Corona-Pandemie ist, sich bei Arzneimitteln weniger von Produzenten außerhalb Europas abhängig zu machen. Etwas plakativ, aber in der Sache richtig, äußert sich dazu der Interessenverband Pro Generika, am Beispiel Propofol:
„Die Corona-Krise hat uns allen deutlich gemacht, wie wichtig europäische Produktion sein kann. Weil sie den Ansturm auf Intensivstationen fürchteten, bestellten die Kliniken bei uns (...) überplanmäßige Mengen an Propofol“, sagt Dr. Boris Bromm, Mitglied der Geschäftsleitung des deutschen Pharmakonzerns Fresenius Kabi. Das Unternehmen ist auch Mitglied bei Pro Generika.
Weiter sagt er: „Weil wir Propofol in Europa produzieren und die Behörden in der Krise exzellent gearbeitet haben, konnten wir flexibel sein und unsere Produktionskapazität rasch der Situation anpassen.“ Hätte man auf Nachschub aus Asien warten müssen, wo es Lockdowns und Export-Stopps gegeben habe, „wer weiß, ob das Propofol in Deutschland gereicht hätte“.
Bromm spricht etwas an, was Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bereits im Mai sagte: „Europa muss bei Arzneimitteln wieder unabhängiger von Asien werden.“ Aber das Thema ist eigentlich noch viel älter.
Schon seit Jahren ärgern sich Apotheker und Ärzte über Lieferengpässe bei Medikamenten. Deshalb hat Deutschlands früherer Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) 2016 den Pharmadialog ins Leben gerufen – doch augenscheinlich ohne Erfolg. Während der SARS-CoV-2-Pandemie zeigte sich, wie viele Arzneistoffe aus Drittstaaten kommen – oder eben nicht mehr kommen.
Jetzt aber mal praktisch: Wo stehen wir und was muss sich ändern?
Mit Lieferengpässen – und das schon seit Jahren – kennt sich Apothekerin Cynthia Milz leider bestens aus. Auch wenn es in Corona-Zeiten etwas anders läuft. Durch gesetzliche Änderungen wurde die Versorgung durch Lieferengpässe weniger beeinträchtigt als sie befürchtet habe, sagt die Apothekerin zu DocCheck. „Wir durften uns vielfach über Rabattverträge hinwegsetzen, um Patienten zu versorgen.“ Milz ist Mitglied des Geschäftsführenden Vorstandes der ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände und Vorstandsmitglied der Bayerischen Landesapothekerkammer.
Doch die SARS-CoV-2-Arzneimittelversorgungsverordnung gilt nicht ewig. Sollten Politiker in Berlin keine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ mehr erkennen, kommt es früher oder später zu den bekannten Lieferengpässen.
Genau deshalb sei es jetzt Zeit, zu handeln, sagt Apothekerin Milz. „Eine Lösung könnte sein, GKVen zu verpflichten, bei der Ausschreibung von Rabattverträgen – soweit vorhanden – mindestens einen europäischen Hersteller zu berücksichtigen.“ Mit Indien oder China könnten europäische Generika-Hersteller preislich nicht konkurrieren. „Kassen sind aber angehalten, wirtschaftlich zu arbeiten“, so Milz weiter. „Deshalb brauchen wir eine gesetzliche Grundlage.“
Außerdem sollten mindestens zwei oder drei Hersteller bei Verträgen berücksichtigt werden – inklusive Lieferverpflichtung oder Vertragsstrafe.
Als weitere Möglichkeit nennt Milz, bei Ausschreibungen Sozial- und Umweltstandards zu berücksichtigen. Auch hier seien europäische Firmen eher in der Lage, solche Kriterien zu erfüllen.
Bis zur Umsetzung neuer Regeln könne es fünf bis zehn Jahre oder mehr dauern, befürchtet die Apothekerin. „Wir müssen aber jetzt anfangen, die Weichen zu stellen.“ Sie rät, erst einmal 15 bis 20 besonders versorgungsrelevante Wirkstoffe zu identifizieren und diese dann in Europa herzustellen. Weitere Pharmaka könnten folgen.
Gerade bei knapp verfügbaren, hochpreisigen Originalpräparaten sieht Milz noch eine andere Gefahr: Manche Großhändler, aber auch manche Kollegen würden, so die Apothekerin, Präparate ins Ausland verkaufen. Mitunter seien dort die Erstattungsbeträge höher. Dem sei ebenfalls ein Riegel vorzuschieben.
Auch der Branchenverband Pro Generika hat sich seine Gedanken zur Frage gemacht, wie man die Arzneimittelproduktion nach Europa holen könnte – und woran es derzeit hapert.
„Eine Produktion hierzulande ist wirtschaftlich derzeit schwierig“, erklärt Andreas Burkhardt von Teva Ratiopharm. „Hier in Europa haben wir Ausgaben, die in Asien gar nicht anfallen.“ Was europäische Märkte bräuchten, seien „gleiche Spielregeln, und zwar für alle Unternehmen“.
Das bestätigt Dr. Dirk Jung von Arevipharma: „Wir produzieren noch in Deutschland, aber das bringt uns mehr Nachteile als Vorteile; es geht doch immer nur um den Preis.“
Metoprolol etwa sei früher in Radebeul hergestellt worden, doch bei einem Weltmarktpreis von 50 Euro pro Kilogramm könne man nur die Ausgangsstoffe und die Abfallentsorgung davon bezahlen.
Daraus leitet Pro Generika einen Forderungskatalog ab. Finanzielle Unterstützung allein greife zu kurz; man müsse auch die Nachfrageseite betrachten. „So lange sich die Krankenkassen auf den niedrigsten Preis fokussieren müssen, werden europäische Produkte nicht wettbewerbsfähiger“, schreibt der Verband.
„Für sechs Cent pro Tag – so niedrig sind derzeit Durchschnittskosten für ein Generikum – wird mehr Stabilität nicht machbar sein.“ Er rät auch, die Lieferkette robuster zu machen, indem man etwa mehrere Anbieter bei Verträgen auswählt.
„Unser Marktsegment (innovative Medikamente) verfügt sowohl über wichtige Forschungsstätten als auch über starke Produktionsstätten in Deutschland“, erklärt ein Sprecher des Verbands forschender Arzneimittelhersteller (VfA) auf Nachfrage von DocCheck. Man denke darüber nach, unter welchen Bedingungen diese leistungsstarke industrielle Infrastruktur noch wachsen könne.
In einer Erklärung zur Zukunft der Wirtschaft sieht der VfA einige Defizite: „Zwar sind die Forschung und Produktion von modernen Arzneimitteln im Jahr 2020 noch immer oftmals Made in Germany.“ Das bringe Deutschland momentan noch gut durch die Krise. „Doch bereits seit einigen Jahren zeigt sich ein gefährlicher Trend: Die einstige Apotheke der Welt verliert immer mehr an Boden gegenüber anderen Ländern, insbesondere an die USA und Asien“, heißt es weiter.
Dort gebe es mehr klinische Forschung und mehr zukunftsträchtige Biotech-Produktion. Und nicht zuletzt: „Neuinvestitionen insbesondere in neuartige Therapien wie Gen- und Zelltherapie finden fast ausschließlich in den USA und Asien statt.“ Darüber hinaus zeichne sich immer mehr eine „protektionistische Handelspolitik einiger Länder ab“. Auch die bisher noch stabilen Lieferketten gerieten dadurch ins Schwanken.
Jetzt ist die Politik gefordert. Einige der wichtigsten Maßnahmen:
Bleibt als Fazit: Einfache Strategien, um die Arzneistoffproduktion nach Europa zu holen, gibt es nicht. Fördert man Generika-Hersteller, ändert sich wenig, so lange GKVen Rabattverträge in der gewohnt unguten Form abschließen.Bildquelle: Vova Drozdey/Unsplash