Die Ergebnisse einer aktuellen Studie zu Gesundheit und Sexualität überraschen mich als Urologin nur wenig. Was mich dagegen überrascht, sind die ungewöhnlichen Fragen meiner männlichen Patienten.
Die häufigsten Themen in einer urologischen Praxis rund um Sexualität kann man grob in zwei Teilbereiche unterteilen, die natürlich auch deutliche Überschneidungen aufweisen:
1. Libidostörungen (sexuelle Unlust), Erektionsstörungen und vorzeitige oder verzögerte Ejakulation
2. Urogenitale Infektionen und sexuell übertragbare Infektionen (STI)
Viele Patienten, vor allem wenn sie das erste Mal zur Vorsorge kommen, sprechen das Thema Erektionsstörungen erst an, wenn sie schon fast wieder zur Tür hinaus gegangen sind: „Frau Doktor, was ich Sie da noch fragen wollte …“. Das führt in einer gefüllten Praxis dann manchmal zu einem innerlichen Seufzer, da das Thema nicht in zwei Minuten abgehandelt ist. Einige werden jetzt denken: Sollte Sie das nicht bei der Anamnese zur Vorsorge schon erfragt haben? Nun, hier frage ich Miktionsbeschwerden, Medikamente, Allergien und Vorerkrankungen auch gezielt ab. Dann kommt irgendwann auch die Frage nach anderen Beschwerden und Störungen, die zu diesem Zeitpunkt häufig verneint werden.
Einen Menschen, den ich seit fünf Minuten kenne und der keine Vorerkrankungen hat, die zu einer erektilen Dysfunktion führt, frage ich nicht direkt nach seiner sexuellen Zufriedenheit, die auch bei urologischen Vorsorgeuntersuchungen oft nicht gestört ist. Hat der Patient dann seine Untersuchung hinter sich, ist er oft entspannter und es besteht jetzt eine Arzt-Patienten-Beziehung. Mit einer offenen Frage, ob er noch Fragen oder Anmerkungen hat, gebe ich Ihm dann die Gelegenheit, auch noch weitere Probleme anzusprechen.
Anders gehe ich vor, wenn der Patient Beschwerden hat, zu deren Symptomenkomplex eine Erektionsstörung gehören kann. Klagt der Patient über blutiges Sperma oder eine kalte Eichel, frage ich direkt nach Erektionsstörungen. Ernte ich dann – selten – eine hochgezogene Augenbraue (und damit den unausgesprochenen Vorwurf, warum ich das frage), so schiebe ich die Erklärung nach.
Bei Patienten, die wegen Libidostörungen und/oder Erektionsstörungen (erektile Dysfunktion, ED) oder einer vorzeitigen Ejakulation (Ejaculatio praecox, EP) kommen, empfiehlt sich eine ausführliche Anamnese. Hier lässt man sich die genauen Beschwerden beschreiben, auch wann und in welcher Situation sie auftreten. Da es durchaus vorkommt, dass die Beschwerden abhängig sind von Sexualpartner/-partnerin. Ein Beispiel: Bei der Ehefrau vorhanden, bei der Freundin nicht. Oder eine zeitliche Abfolge besteht: „Früher hatte ich nie Schwierigkeiten, jetzt habe ich eine neue Partnerin/einen neuen Partner und jetzt klappt's nicht.“ Durch Nachfragen erhält man Hinweise, ob eine körperliche Ursache zugrunde liegt oder ob einfach der Stress („Ich will es besonders gut machen“) eine normale Erektion verhindert. Hier helfen Fragen zur zeitlichen Abfolge, aber auch zur Selbstbefriedigung.
Wie wichtig eine Anamnese ist, wird bei der EP klar. Diese kann lediglich subjektiv empfunden sein, seit Beginn des sexuellen Lebens bestehen oder sekundär aufgetreten sein. Bei neu aufgetretener EP sind Kombinationen mit einer Erektionsstörung häufig. Merkt der Mann, dass die Erektion nicht lange gehalten werden kann, kommt es zu einer frühzeitigen Ejakulation – bewusst oder unbewusst. Hier würde dann ein Potenzmittel helfen, während das Präparat für die EP in diesem Fall sicherlich zu noch mehr Frust führt. Im Gegensatz dazu stellt das Medikament bei einer primären EP eine gute Option dar.
Wichtig ist auch die Frage nach dem Leidensdruck des Patienten und der Paarbeziehung. In der Pilotstudie zur Erwachsenensexualität wird auf die Diskrepanz zwischen dem zeitweiligen Vorkommen sexueller Störungen in den letzten 6 Monaten bei ca. 50 % der Männer und dem seltenen Leidensdruck bei weniger als 4 % der Betroffenen hingewiesen. Wobei natürlich die Patienten mit Leidensdruck eher den Weg zum Arzt finden werden. Allerdings kommt es auch vor, dass Patienten nur bestätigt haben wollen, dass das, was sie erleben, normal ist. „Kann es sein, dass ich weniger Lust auf Sex habe, weil mich Arbeit, Kinder, Hausbau und die Pflege eines Angehörigen stressen?“ Immer interessant ist die Antwort auf die Frage, ob die Partnerin/der Partner verständnisvoll ist oder eher Druck aufbaut. Hier kann die Lösung des Problems dann auch mal in der Trennung liegen.
Häufig kommen auch ältere Herren, die nach Potenzmittel fragen, aber seit Jahren keinen Sex mehr hatten und auch keine Partnerin/keinen Partner haben und das aber „so für sich“ haben wollen (weil am Stammtisch ja auch alle super Sex haben). Dann schaut die Urologin manchmal traurig auf die schon zehn internistische Wirkstoffe enthaltende Medikamentenliste und schwankt zwischen dem (berechtigten) Interesse des Patienten einerseits und der Aufklärung andererseits, dass am Stammtisch und in der Werbung gelogen wird. Das ist dann der Moment, in dem ich mich frage, ob wir mit der Erwartungshaltung vom vermeintlich unterversorgten Patienten tatsächlich immer etwas Gutes tun. Oder unterstützen wir damit Erwartungshaltungen, die wir gar nicht erfüllen können?
Erwartungshaltung ist sowieso ein schönes Thema: Ein Endvierziger, der in einer funktionierenden Ehe lebt, hat mich mal gefragt, ob sein reduziertes Sexleben normal sei. Er habe da mal mitgezählt: „Vor einigen Jahren habe ich beinahe täglich Sex gehabt, also 350 mal pro Jahr. Im letzten Jahr sind es nur 150 mal gewesen.“ Dank der vorliegenden Untersuchung könnte ich ihm heute sagen, dass er immer noch zu den 10 % mit dem häufigsten Sex zählt.
Nicht selten ist auch die Aussage: „Ich habe eine deutlich jüngere Partnerin, also muss alles gut funktionieren.“ Oft wissen die betroffenen Frauen aber gar nichts von den Befürchtungen der Männer, sodass auch hier manchmal Kommunikation ein Schlüssel sein kann.
Manche Anamnese fördert auch Erwartungshaltungen zutage, die man so am Anfang gar nicht vermutet hätte. Zum Beispiel wird „Mann“ den eigenen Erwartungen niemals gerecht werden, wenn er sich mit den Darstellern in täglich stundenlang konsumierten Pornos vergleicht. Daran wird auch das von den Kollegen verordnete Potenzmittel nichts ändern. Doch auch hier gilt: Das Ausmaß und die Menge sind entscheidend. In der Pilotstudie nutzte jeder zweite Singlemann mehr als zweimal pro Woche Pornos, aber auch in Beziehungen werden von 60 % der Männer (meist zur Masturbation) und 15 % der Frauen regelmäßig Pornos gesehen. Während die meisten Männer berichten, der Pornokonsum habe keine (59 %) oder positive Auswirkungen auf das eigene sexuelle Erleben, berichten 3 % von negativen Auswirkungen.
Mit einer guten Anamnese hat man oft schon den Grundstein für eine adäquate Therapie gelegt. Zusätzlich erfährt man viel über seine Patienten, aber man lernt auch, zu beachten, wie unterschiedlich Menschen in der Bewertung ihrer Sexualität und Ihren Bedürfnissen sind. Die GeSiD weist eindrücklich darauf hin, dass ein hohes Maß an erlebter Nähe in einer Paarbeziehung in Zusammenhang mit einem guten Beziehungs- und Sexualleben steht. Man weiß aber nicht, ob sexuelle Probleme zu distanzbetonten Beziehungen führen oder in diesen Beziehungen eher sexuelle Schwierigkeiten auftauchen.
Sexuelle Schwierigkeiten verbessern jedenfalls eine Beziehung nicht, sondern führen zu Ängsten auf beiden Seiten (Mann denkt: „Hoffentlich klappt's!“, Frau denkt: „Bin ich attraktiv genug? Liebt er mich noch?“). Ich rate zum einen zur Kommunikation mit dem Partner, aber verordne oft auch Potenzmittel, damit man Stress aus der Beziehung nimmt.
Wichtig ist auch die Medikamentenanamnese, da viele Medikamente, insbesondere Psychopharmaka, Auswirkungen auf die Sexualität haben. Das Vorerkrankungen, Begleiterkrankungen oder operative Ereignisse Auswirkungen auf die Sexualität haben – und wichtig für die Therapie sind – ist wenig überraschend. In der Studie wurde auch nach Begleiterkrankungen und dem Gesundheitszustand gefragt. Bei Männern konnten nur für Prostataoperationen, Depressionen und andere psychische Erkrankungen ein direkter Zusammenhang mit der sexuellen Aktivität in den vier Wochen vor der Befragung festgestellt werden. Und obwohl die sexuelle Aktivität sinkt, wenn der eigene Gesundheitszustand als schlecht empfunden wird, so hatte ein Drittel der Befragen Sex in den letzten vier Wochen. Aber auch die sexuelle Zufriedenheit sank bei diesen Patienten.
Eine der häufigsten operativ bedingten Erektionsstörungen in einer urologischen Praxis ist durch die radikale Prostataoperation bei Prostatakarzinom bedingt. Jeder Urologe wird seinen Patienten postoperativ auf Erektionsstörungen ansprechen, da diese ausgesprochen häufig auftreten und eine frühe Behandlung empfohlen wird. Eine Beratung zu diesem Thema ist auch in nahezu allen Rehakliniken implementiert, sodass häufig in der ersten Tumornachsorge schon ein hohes Wissen über mögliche Therapiemöglichkeiten vorliegt und man hierauf aufbauend beraten kann. Bedenken sollte man aber, dass manchen Patienten eine Erektion nicht (mehr) wichtig ist. Äußert dies der Patient klar, mache ich mir eine Notiz, teile dem Patienten mit, falls sich dies ändere, möge er mich informieren und spreche das Thema von mir aus nicht mehr an.
Sehr häufig sind organisch bedingte Erektionsstörungen aufgrund kombinierter Risikofaktoren. Paradebeispiel ist hier der adipöse Patient mit metabolischem Syndrom, der noch raucht und einen Betablocker schluckt.
Die Studie geht auch auf sexuelle Praktiken und sexuell übertragbare Infektionen ein (STI). Diese Themen sind eng verknüpft, da ein großer Teil der Erkrankungen z. B. auch durch Oral-/Analverkehr übertragen wird. Hier sollte man keine Scheu haben, nachzufragen. Die häufigste sexuelle Praktik bei heterosexuellen Kontakten ist der Vaginalverkehr (90 %), dicht gefolgt vom Oralverkehr (bis zu 78 %). Analsex geben bis zu 20 % der Befragten an.
Oralsex und Analsex sind in höherem Alter allerdings deutlich seltener. Sex im Swingerclub/Partnertausch praktizieren nur 3 % der Befragten. Auch in festen Partnerschaften kommen Außenkontakte vor. So gaben 23 % der Männer und 13 % der Frauen an, in der jetzigen Beziehung schon einmal fremdgegangen zu sein. Nicht alle schützen sich (immer) mit Kondomen, sodass Infekte leicht in Paarbeziehungen eingetragen werden können. Wenn diese Infekte bestehen, so sprechen ca. 80 % mit Ihrem Sexualpartner darüber. Auch diese Zahlen stimmen mit der Lebenswirklichkeit einer Urologin gut überein.
In der Studie war klar definiert, welche Sexualpraktiken als „Sex“ galten. Diese Definitionen kann man aber nicht voraussetzen. So verstehen einige Patienten unter Sex nur vaginalen Sex, der geschützt war. Aber den ungeschützten oralen Sex verschweigen sie, da der ja nicht unter „Sex“ läuft, solange man nicht explizit nachfragt. Da für viele STI inzwischen PCR-Tests vorliegen, ist es wichtig, zu wissen, von wo die Abstriche sinnvollerweise genommen werden sollen. Übrigens bekam ich im Zuge einer solchen Abstrich-Abnahme vor einiger Zeit die Antwort: „Auch oral, das wird ja heute so erwartet.“
Inzwischen gibt es eine zunehmende Anzahl von Männern, die sich vorsorglich für eine neue Partnerschaft auf STI untersuchen lassen. Auch Partneruntersuchungen bei Vorliegen einer STI werden zunehmend veranlasst. Diese sind bei Chlamydieninfekten sinnvoll. Allerdings sind diese Untersuchungen bei Hoch-Risiko-HPV-Infekten der Frau sehr zweischneidig. Da man beim Partner fast nie eine Erkrankung sieht, kann man zwar Abstriche machen und teilweise ebenfalls HPV-Viren nachweisen, nur therapieren kann man diese dann nicht. Anders ist dies natürlich bei der Partner-Untersuchung auf die ebenfalls HPV (allerdings low-risk-HPV) bedingten Feigwarzen. Zur Prophylaxe der HPV-Viren stehen inzwischen auch für Jungen zugelassene Impfstoffe zur Verfügung, die von den Kassen übernommen werden.
Sehr häufig werde ich mit rezidivierenden Harnwegsinfekten konfrontiert, die zum Teil mit Vaginalentzündungen einhergehen, oder im Wechselspiel mit diesen erfolgen. Sind diese Entzündungen vom Geschlechtsverkehr getriggert, fragt man zunächst, ob sie auch nach Sex mit Kondom auftreten. Tun sie das nicht, sollte versucht werden, eine Keimbestimmung aus dem Exprimaturin oder dem Ejakulat zu gewinnen. In diesen eher selteneren Fällen ist dann eine resistenzgerechte Partnerbehandlung sinnvoll. Rezidivierende Harnwegsinfekte, auch wenn sie unabhängig vom Geschlechtsverkehr auftreten, können eine hohe Belastung für die Paarbeziehung darstellen, da die meisten Frauen während einer Infektionen keine Lust auf Sex haben. Männer hingegen sollte man bei einer Urethritis explizit darauf hinweisen, dass bis zum Ausheilen des Infektes ein Kondom zu benutzen ist. Hier musste ich schon manchmal ein Pokerface aufsetzen, da mich schon Männer mit aus der Harnröhre tropfendem Eiter gefragt haben, ob sie ein Kondom benützen müssten.
Für die meisten Menschen gehört Sex selbstverständlich zum Leben dazu und wird als wichtiger Teil der eigenen Persönlichkeit empfunden. Als Ärzte sollten wir dies ernst nehmen und vor allem die unterschiedlichen Vorstellungen und Bedürfnisse der Patienten berücksichtigen und nicht werten. Am liebsten erinnere ich mich an einen Patienten Mitte 80, klein und schlank, Typ Opi, der nach einer unauffälligen Vorsorgeuntersuchung strahlend vor mir stand und sagt: „Hihi, und ab und zu klappt's auch noch!“
RandnotizWer in die eingangs erwähnte Studie „Gesundheit und Sexualität in Deutschland (GeSiD)“ mal reinschauen mag, findet hier das PDF.
Bildquelle: Louis Hansel @shotsoflouis, unsplash