Weniger Schmerzen, weniger Angst und eine schnellere Rehabilitation: Für die virtuelle Realität gibt es zahlreiche Anwendungsgebiete – in Deutschland bisher meist nur in klinischen Studien. Doch langsam ändert sich was.
Bei der virtuellen Realität (Virtual Reality, VR) nimmt der Anwender im Unterschied zur erweiterten Realität (Augmented Reality) seine reale Umgebung nicht mehr wahr. Vielmehr erzeugen Computer und Hilfsmittel wie VR-Brillen dreidimensionale Erlebniswelten, in die man komplett eintauchen kann. Ursprünglich für Simulationen oder Computerspiele entwickelt, hat sich VR mittlerweile zu einem eigenen Therapiezweig entwickelt.
Noch sind viele der Möglichkeiten im Stadium klinischer Studien oder allenfalls in den USA verfügbar. Was die weitere Entwicklung in Deutschland befeuern wird: Mit seinem Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) möchte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn moderne Technologien auch vermehrt in die Praxis bringen.
Immer mehr werden Ärzte die Möglichkeit haben, Apps oder VR-Applikationen zu verordnen – vorausgesetzt, dass das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eine Vorprüfung erfolgreich durchgeführt hat. Bei Erfolg werden sie dann vorläufig für zwölf Monate in das DiGA-Verzeichnis aufgenommen. Innerhalb der Periode müssen Hersteller einen Mehrwert nachweisen, dann bleibt es bei der Verordnung zu Lasten gesetzlicher Krankenkassen. Seit dem 6. Oktober ist das lang angekündigte Verzeichnis digitaler Gesundheitsanwendungen (DiGA) beim BfArM nun online – derzeit mit sechs Apps und drei Webanwendungen.
Eine der Apps im Verzeichnis ist Invirto. Das Tool bietet eine vollständige sogenannte Expositionstherapie, die zu hause durchgeführt werden kann. Invirto wurde Anfang Dezember vom BfArM als Digitale Gesundheitsanwendung zugelassen. Das Prinzip: Erkrankte stellen sich bewusst individuell angstauslösenden Situationen und lernen, die aufkommenden Gefühle neu zu bewerten. Typische „Angstmacher“ können Aufzugfahren, Menschenansammlungen oder Supermarktbesuche sein.
Die Kosten für die App, eine Virtual-Reality-Brille und einen Kopfhörer übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen vollständig, natürlich nur für den Behandlungszeitraum. Invirto ist damit die erste DiGA im BfArM-Verzeichnis, bei der eine Hardware mitverordnet werden kann. Ausgebildete Psychotherapeuten führen bei den Anwendern eine Diagnostik durch und begleiten kontinuierlich die Behandlung. Seit Anfang 2020 läuft eine wissenschaftliche Studie zur Wirksamkeit der digitalen Psychotherapie am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Lübeck und Kiel (UKSH). Das BfArM hat den Datenschutz und die IT-Sicherheit von Invirto positiv bewertet.
Laut Spitzenverband Digitale Gesundheitsversorgung haben noch weitere Unternehmen Anträge beim BfArM eingereicht oder werden dies tun. Auch hier handelt es sich um Apps oder Online-Tools. Wie breit gefächert die Einsatzgebiete sein können, zeigt die folgende Übersicht.
Inwieweit sich psychische Störungen durch VR-Anwendungen verbessern lassen, untersuchen Forscher schon recht lange. Ein Team des University College London zeigte im Rahmen einer offenen Studie, dass sich Avatare als digitale Abbilder von Patienten zur Therapie bei Depression eignen. Leitlinien zufolge eignet sich die Methode außerdem bei diversen Angststörungen, insbesondere bei spezifischen Phobien, wie bei der bereits erwähnten App Invirto. Sogar Höhenangst wurde, gemessen an einer Kontrollgruppe ohne VR, signifikant reduziert. Auch gegen Spinnephobien haben Forscher die Technologie untersucht – mit Erfolg. Ein ganz anderes Einsatzgebiet sind Suchterkrankungen: Reisen durch virtuelle Welten lassen einer kleinen Studie zufolge Patienten mit Alkohol-Abusus seltener zur Flasche greifen.
Recht bald fanden Wissenschaftler außerdem heraus, dass VR-Anwendungen Schmerzen verringern können, indem sie das Gehirn mit Sinnesreizen ablenken. Dieses Thema wird seit Jahren u.a. am Cedars-Sinai Medical Center Los Angeles erforscht. Zuletzt berichteten die dortigen Experten über Ergebnisse einer Studie mit 120 Erwachsenen. Diese wurden aufgrund orthopädischer Probleme, Magen-Darm-Erkrankungen oder Krebs stationär behandelt. Sie hatten während der 24 Stunden vor der Teilnahme an der Studie einen durchschnittlichen Schmerzwert von mindestens drei auf einer zehnstufigen Skala.
Die Hälfte der Patienten erhielt eine VR-Brille mit einer Vielzahl von entspannenden und meditativen Erfahrungen zur Auswahl. Es wurde ihnen empfohlen, die Brille dreimal täglich zehn Minuten pro Sitzung – und nach Bedarf bei Durchbruchschmerzen – über drei Tage zu verwenden. Die andere Hälfte der Patienten wurde angewiesen, ihre Fernseher im Zimmer auf den Gesundheits- und Wellnesskanal einzustellen, auch für mindestens zehn Minuten am Tag. Patienten in der VR-Gruppe kamen auf durchschnittlich 1,7 Punkte weniger, verglichen mit der TV-Gruppe. Solche Maßnahmen könnten dazu beitragen, Analgetika einzusparen.
Bekannt ist für die Analgesie auch „SnowWorld“, eine VR-Applikation der University of Washington. User bewegen sich, daher der Name, in einer Winterlandschaft. Sie werfen Schneebälle, bauen Schneemänner – und „vergessen“ ihre Schmerzen. Denn ihre Wahrnehmung wird durch die VR-Anwendung abgelenkt. Je interaktiver das Tool ist, desto besser sind auch die Effekte, berichten Forscher. Der Effekt verstärkte sich auch mit moderneren Displays, die realistischere Effekte erzeugen. Davon profitieren beispielsweise Patienten mit schweren Brandverletzungen bei der Wundversorgung. Auch bei ambulanten Eingriffen entspanne sich der Patient eher.
Als weiteres Anwendungsgebiet sieht die Deutsche Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und Funktionelle Bildgebung (DGKN) in VR-Anwendungen große Potenziale, um Patienten nach einem Schlaganfall, einer Schädelverletzung oder einer Nervenschädigung den Weg zurück in die Normalität zu erleichtern. VR-gestützte Rehabilitationen lassen sich in klassische Therapiekonzepte integrieren. Patienten setzen ihre VR-Brille auf und erleben das anstrengende Training in einer positiven Umgebung – am Meer, im Wald oder wo immer sie gern wären. In einer Studie stellten die Forscher fest, dass Kinder mit Zerebralparese nach einer VR-Therapie eine signifikante Verbesserung ihrer Mobilität erlebten.
„Neurologische Rehabilitation wird zum Erlebnis“, schreibt die DGKN. Therapeuten können den Schwierigkeitsgrad solcher Tools adjustieren. Dieser Ansatz, bekannt als Gamification, hat Vorteile: Patienten halten nicht nur länger durch. Sie steigern auch ihre Leistung schneller als ohne die VR-Komponente.
Die Einsatzmöglichkeiten der digitalen Anwendungen scheinen vielfältig. Die laufenden Studien werden zeigen, ob diese Art der Therapie bald fester Bestandteil unseres Gesundheitssystems sein wird.
Bildquelle: Jessica Lewis, unsplash