Die Leitungen sind belegt, am Ende wird man abgewiesen. Eltern verzweifeln bei der Suche nach einem Kinderarzt. Gibt es zu wenig Kinderärzte oder sind wir in Deutschland einfach schlecht organisiert?
Es erscheint paradox: Einerseits berichten Eltern, sie müssten wochenlang warten, bis sie mit ihrem Kind in die Sprechstunde können oder verzweifeln schier bei der Suche nach einer Praxis, die neue Patienten aufnimmt. Andererseits ist die Zahl der neu weitergebildeten Fachärzte für Kinder- und Jugendmedizin pro Jahr stabil – in den letzten Jahren gab es statistisch gesehen sogar einen leichten Zuwachs.
Wo liegt also das Problem? Und wie kann die Situation verbessert werden? Die Lage im Fakten-Check.
Die Bundesärztekammer veröffentlicht in regelmäßigen Abständen demographische Daten zur Altersstruktur der Ärzte. Im niedergelassenen Bereich zeigte die Altersstruktur von Kinder- und Jugendärzten in Deutschland einen deutlichen Überhang an älteren Kollegen:
Bis 2025 wird ein Viertel aller Kinderärzte in den Ruhestand gehen, sagt Thomas Fischbach, Präsident des Bundesverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). Seiner Meinung nach ist die Kinder- und Jugendmedizin in Deutschland „in großer Gefahr“. Der demographische Wandel in der Ärztschaft verschärft die Situation; der Markt für Nachwuskräfte ist leergefegt. Ob es immer gelingen wird, Nachfolger für die Praxen zu finden, darf in vielen Fällen bezweifelt werden. Denn die Wertevorstellungen des beruflichen Nachwuchses haben sich grundlegend gewandelt.
Vor allem in der Pädiatrie wollen viele Ärzte in Teilzeit und in einem Angestelltenverhältnissen arbeiten. So lassen sich Familie und Beruf besser vereinbaren. Daraus ergibt sich ein geringerer Arbeitsstundenumfang pro Kinder- und Jugendarzt. Inzwischen sind es ca. 85 % Frauen, die nach dem Medizinstudium die Weiterbildung zur Kinder- und Jugendärztin absolvieren. Von ihnen arbeitet ein wesentlicher Teil nicht in Vollzeit.
Das zeigt beispielsweise eine Umfrage der Apobank bei angehenden Ärzten: Frauen, aber auch Männer, bevorzugen, in Teilzeit zu arbeiten. Die eigene Praxis ist nicht mehr wie früher das oberste Ziel. Viele können sich vorstellen, angestellt in einem MVZ oder in einer größeren Praxis tätig zu werden. Insofern bedeutet der leichte Anstieg der Gesamtzahl an Kinder- und Jugendärzten (2015: 14.162, 2019: 15.468) nicht, dass sich die Versorgung verbessert hat. Denn es zählen Personenstunden, nicht Köpfe.
In letzter Zeit ist der Bedarf an Pädiatern gestiegen, und zwar aus zwei Gründen. Einerseits gibt es mehr Kinder. In der Altersklasse unter 14 Jahren beispielsweise waren es 2013 noch 9,8 Millionen – mittlerweile nennen Statistiken 10,7 Millionen. Das mag an Maßnahmen zur Geburtenförderung, aber auch am Zuzug von Familien aus Drittstaaten liegen.
Hinzu kommt: Pädiater haben inwzischen weitaus mehr Aufgaben im Bereich der Prävention. Gab es Mitte 1971 zum Start solcher Programme gerade einmal sieben Vorsorgeuntersuchungen, sind daraus die U1 bis U11 und die J1 bis J2 geworden, inklusive diverser Impfungen. Das kostet Zeit.
Außerdem gibt es mehr chronische Erkrankungen beim Nachwuchs. Dazu zählen Allergien, Asthma, Übergewicht, Typ-2-Diabetes oder angeborene Herzfehler. Viele Leiden, die früher im Kinderkrankenhaus behandelt worden sind, lassen sich heute ambulant therapieren.
„Die Zahl der niedergelassenen Kinder- und Jugendärzte hat mit diesen Entwicklungen nicht Schritt gehalten – ein Fehler der starren Bedarfsplanung“, sagt Dr. Thomas Fischbach. Von den Medizinern, die einen kinderärztlichen KV-Sitz belegen, übernehmen etwa zehn Prozent keine Basisversorgung der Patienten. So werden auch spezialisierte Kinderärzte, die ausschließlich in ihrem Fachgebiet tätig sind, als allgemeine Versorger gewertet. Das führt zu einem verzerrten Bild der tatsächlichen Versorgungslage.
Auch das zu grobe Raster bei der Bedarfsplanung in Großstädten führt zu Problemen. „Eine Ermittlung von Versorgungsgraden auf einzelne Stadtbezirke bezogen erfolgt nicht“, erklärt Axel Heise von der Kassenärztliche Vereinigung Bayerns (KVB). Pädiater bevorzugen wirtschaftlich attraktive Gegenden, etwa die Münchener Innenstadt. Sozial benachteiligte Gebiete, etwa der Münchener Norden, werden gemieden. Das führt – bei insgesamt ausreichender Zahl – lokal zu Versorgungsengpässen. Fischbach jedenfalls wünscht sich eine flexiblere Bedarfsplanung.
Fakt 5: Corona verschärft die Engpässe
Momentan spitzt sich die Lage weiter zu – die Corona-Pandemie ist für viele ohnehin überlastete Kinderärzte mit einem enormem Arbeitsaufwand verbunden. Dr. Klaus Rodens hatte gegenüber dem Spiegel im Sommer davor gewarnt, dass die Kinderarztpraxen dem Andrang im Herbst nicht mehr standhalten können.
Er ist ebenfalls im Vorstand des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte. „Unser System wird zusammenbrechen", sagte Rodens im Interview. Dieser Fall sei bisher noch nicht eingetreten, wie er der DocCheck Redaktion berichtet. „Es ist im Moment noch machbar, aber deutlich angespannt“. Er habe Kollegen, die zur Zeit 60 Kinder am Tag abstreichen. In einer Jahreszeit, in der ohnehin 20–30 Prozent mehr Patienten kommen. Das wirkt sich auf die verfügbare Zeit für andere Patienten aus, sehr wahrscheinlich noch über einen langen Zeitraum.
„Trotz einer stabilen Zahl der pro Jahr neu weitergebildeten Fachärzte für Kinder- und Jugendmedizin sinkt die Verfügbarkeit des Zeitangebots für die kleinen Patienten", so das Fazit von Dr. Klaus Rodens.
Skandinavische Länder, aber auch Großbritannien und die USA, zeigen einen möglichen Weg. Hier übernehmen nichtärztliche Fachkräfte, sogenannte Pediatric Nurses, viele Aufgaben in Eigenregie. DocCheck sprach dazu mit Bettina De Mattia, der zuständigen Pflegebereichsleitung der Kinderklinik und Kinderpolyklinik am Dr. von Hauner’schen Kinderspital der LMU München. Sie engagiert sich auch im Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe e.V. (DBfK).
„In vielen europäischen Ländern leiten Pediatric Nurses Zentren für die Versorgung von Kindern und Jugendlichen, in denen Routinekontrollen vergleichbar mit den U- und J-Untersuchungen inklusive Beratungen der Eltern durchgeführt werden“, berichtet De Mattia.
Pediatric Nurses untersuchen die Patienten, behandeln aber auch Bagatellerkrankungen und informieren Eltern, beispielsweise zur richtigen Ernährung. Bestimmte Arzneimittel dürfen sie ebenfalls verordnen. Einige Leistungen finden somit außerhalb von Arztpraxen statt. Bei Anzeichen auf gravierende Erkrankungen werden Ärzte eingebunden.
„Die großen Unterschiede: Pediatric Nurses sind eine akademisierte Berufsgruppe“, erklärt De Mattia. „Sie verantworten ihren Tätigkeitsbereich nicht unter der Verantwortung der Ärzte, sondern arbeiten eigenverantwortlich, sind also kein Assistenzpersonal.“ Das zeigt sich auch beim Gehalt.
Statistiken aus den USA, Stand 2019, nennen im Schnitt 73.000 US-Dollar (62.756 Euro) brutto pro Jahr. Die Bandbreite reicht von 55.000 US-Dollar (rund 47.000 Euro) beim Einstieg bis hin zu 90.000 US-Dollar (rund 77.000 Euro) oder mehr bei spezialisierten Pediatric Nurses: diese Gehaltsaussichten bieten, neben dem eigenverantwortlichen Arbeiten, sicherlich einen Anreiz für Jugendliche, diesen Berugsweg einzuschlagen.
Doch zurück nach Deutschland. Bei uns gebe es, wie Bettina De Mattia betont, ein grundsätzlich anderes System. „Krankenpflege wird über eine praktische Ausbildung an Berufsfachschulen vermittelt und nicht vorrangig an Hochschulen gelehrt.“ Ein Grund daran festzuhalten sei die Sorge, dass viele Jugendliche aus Realschulen kämen – und diese bei einer Akademisierung des Berufes wegfallen könnten.
Eine Akademisierung in Deutschland betreffe aktuell überwiegend das Pflegemanagement, Pflegewissenschaften und Pflegepädagogik. „Doch diese Studiengänge führen letztlich vom Bett des Patienten weg“, sagt die Expertin. „Uns fehlt ein vierter Studiengang, vergleichbar mit den Pediatric Nurses in anderen Ländern, mit Schwerpunkt auf der Versorgung unserer kleinen Patienten.“
Dr. Klaus Rodens sieht vor allem eine Maßnahmen als dringend notwendig, um die pädiatrische Versorgung in Deutschland zu verbessern: Die Niederlassung als Kinder- und Jugendmediziner muss attraktiver werden. Um das zu erreichen, fordert er unter anderem:
Um die Situation auch möglichst zeitnah zu verbessern, ist für Rodens die finanzielle Förderung der Weiterbildung zum Kinder- und Jugendarzt in den Praxen essenziell. „Ohne eine Förderung der ambulanten Weiterbildung analog zu den Allgemeinärzten droht eine weitere Ausdünnung der hochwertigen pädiatrischen Versorgung“, sagt Rodens.
Bildquelle: Anna Dickson, unsplash