Ablagerungen im Gehirn führen schon bei Kindern und Jugendlichen zu demenzähnlichen Erkrankungen, den neuronalen Ceroid-Lipofuszinosen (NCL). Therapien gibt es nicht. Deshalb versuchen Eltern mit großer Leidenschaft, an experimentelle Wirkstoffe zu gelangen.
Hannah hat im Juli ihren zehnten Geburtstag gefeiert. Vor vier Jahren wurde sie normal eingeschult – als interessiertes, aufmerksames Mädchen. Mittlerweile vergisst sie Details aus ihrem kurzen Leben oder aus ihrer Umwelt, etwa das Schwimmen. Hannah leidet an neuronaler Ceroid-Lipofuszinose Typ 2 (NCL Typ 2), bekannt als „Kinderdemenz“.
Welche Prozesse bei NCL genau ablaufen, ist Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Fest steht, dass es sich um meist autosomal-rezessiv vererbte Stoffwechselerkrankungen handelt, die zu lysosomalen Speicherkrankheiten zählt. Humangenetiker haben 14 relevante Gene identifiziert, von denen eines Mutationen aufweist. Die Inzidenz aller Formen liegt in Europa und Nordamerika bei 1 zu 10.000. Doch was passiert im Gehirn genau? Genetische Defekte führen zu nicht mehr funktionsfähigen Enzymen. Davon ist bei Typ 1 die Palmitoyl-Protein-Thioesterase 1 und bei Typ 2 die Tripeptidyl-Peptidase 1 betroffen. Wachsartige Ceroid-Lipofuszine, also zelluläre Abfallprodukte aus Lipiden und Proteinen, sammeln sich intrazellulär an. Letztlich gehen Nervenzellen zu Grunde. Da in frühen Lebensphasen viele Neuronen entstehen, kommt es zu einem ständigen Auf und Ab der Fähigkeiten: Kinder lernen Laufen, später Schreiben und Schwimmen – um die Fähigkeit kurzerhand wieder zu verlieren. Bei Hannah tippten Ärzte ursprünglich auf das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS), bis sie schließlich eine andere Diagnose stellen mussten. Je weiter die Krankheit voranschreitet, desto ausgeprägter werden auch die Symptome. Es kann zu epileptischen Anfällen und zu Myoklonien kommen. Kinder erblinden, und auch der Schluckreflex lässt nach. Sämtliche kognitiven und motorischen Fähigkeiten gehen verloren, je nach Genotyp früher oder später.
Vier von 14 Formen der Erkrankung sind besonders häufig: NCL Typ 1, die Hagberg-Santavuori-Krankheit, tritt als infantile Ausprägung bei Kindern zwischen sechs und 24 Monaten auf. Ihre Entwicklung stagniert; später kommt es zu Rückschritten. Typischerweise treten Muskelhypotonien auf, später epileptische Anfälle. Kleine Patienten sterben meist vor ihrem vierten Geburtstag. Im Unterschied dazu tritt NCL Typ 2, die Jansky-Bielschowsky-Krankheit als spät-infantile Ausprägung, zwischen dem zweiten und dem vierten Lebensjahr auf. Typisch sind Krämpfe und Ataxien, gefolgt von einer Atrophie des Gehirns und von Demenz. Hier beträgt die maximale Lebenserwartung zehn bis zwölf Jahre. Beim juvenilen Erscheinungsbild NCL Typ 3, bekannt als Batten-Krankheit, treten die Symptome im Alter von fünf bis zehn Jahren auf. Es kommt zum Verlust der Sehfähigkeit. Nach und nach schwinden motorische beziehungsweise kognitive Fähigkeiten. Degenerative Prozesse im Gehirn führen schließlich zu Epilepsie und Demenz. Betroffene sterben in der Regel im Alter zwischen 20 und 40 Jahren. NCL Typ 4, das Kufs-Syndrom, unterscheidet sich als adulte Form mit milderem Verlauf stark von Typ 1 bis 3. Erste Symptome treten nach dem 30. Geburtstag auf. Danach bleiben den Patienten meist noch zehn Jahre. „Kinderdemenz“ ist damit ein eher irreführender Begriff. Zum Vergleich: Die Alzheimer-Demenz hat weitaus komplexere Auslöser; mit humangenetischen Analysen ist es nicht getan. Beide Krankheiten führen über unterschiedliche Mechanismen zur Neurodegenration.
Haben Ärzte NCL labordiagnostisch und humangenetisch nachgewiesen, bleiben ihnen lediglich palliative Behandlungskonzepte – zugelassene Therapien gibt es nicht. Forscher verfolgen aber mehrere Strategien: Cysteamin (2-Aminoethanthiol) und N-Acetylcystein zeigten in einer kleinen Studie Effekte. Manche Patienten starten Behandlungsversuche mit Flupirtin, einem Schmerzmittel. Aktuelle Untersuchungen gibt es hier nicht. Das Immunsuppressivum Mycophenolat-Mofetil wird im Rahmen einer Studie untersucht; Resultate müssen noch veröffentlicht werden. Auch Gentherapien gelten als vielversprechend – momentan läuft eine Studie mit Adeno-assoziierter Viren (AAV 2) als Vektoren. Noch bis Ende 2020 sollen Daten gesammelt werden. Versuchsweise haben Ärzte auch Stammzellen eingesetzt; eine Studie lief bis Anfang 2015. Phase Ib scheiterte am Versuch, Patienten in frühen Stadien zu rekrutieren.
Viel naheliegender wäre eigentlich, defekte Enzyme zu substituieren. Diesen Weg geht BioMarin, ein forschender Hersteller aus den USA, mit BMN-190 (Cerliponase Alfa). Patienten erhielten rekombinante, menschliche Tripeptidylpeptidase-1 (rhTPP1) als intracerebroventrikuläre Injektion alle zwei Wochen, und zwar 48 Wochen lang. Nach Erfolgen einer Phase1/2-Dosisfindungsstudie folgte eine Verlängerungsstudie, um Sicherheit und Wirksamkeit zu überprüfen. Weitere Personen werden nicht mehr aufgenommen. Dagegen setzen sich Hannahs Eltern zur Wehr. Sie argumentieren mit Compassionate-Use-Programmen. Nach deutschem Recht können nicht zugelassene Medikamente, von denen schon Daten vorliegen, in Einzelfällen verwendet werden. Details regelt das Arzneimittelgesetz (AMG), Paragraph 80. Nur hat BioMarin kein Interesse – die Gründe liegen im Dunkeln. Vielleicht liegt es daran, dass ein Konzern Pharmaka für Härtefallprogramme kostenlos zur Verfügung stellen muss. Hannahs Eltern versuchen jetzt über das Kampagnenportal change.org medialen Druck aufzubauen. Mehr als 360.000 User unterstützen ihren Wunsch, BMN-190 einzusetzen.