Wenn Patienten den Corona-Antikörpertest wollen, beschleicht mich als Ärztin ein mulmiges Gefühl. Denn ein positives Ergebnis bedeutet, dass sie schuld an der Infektion von Angehörigen sein könnten.
Über Schuld und Schuldgefühle, die man als Arzt empfindet, wenn man Fehler macht, habe ich schon in einem früheren Artikel geschrieben. In den letzten Monaten kam das Thema Schuld bei uns in der Praxis wieder verstärkt auf – diesmal aber auf Patientenseite. Meistens natürlich wegen Corona.
Die erste Infektionswelle hat uns hier in der ländlichen Hausarztpraxis leider heftig getroffen. Etwa 20 betroffene Patienten im März und April, ein betroffenes Seniorenheim und leider auch mehrere Tote. Man muss sich die damalige Lage kurz ins Gedächtnis rufen: Es war wenig über SARS-CoV-2 bekannt. Alle haben versucht, sich irgendwie zu informieren, um Patienten möglichst optimal zu versorgen. Dabei verfolgte viele Ärzte schon der Gedanke, wie es wäre, selbst zu erkranken. Ich habe das große Glück, keine Risikofaktoren zu haben, aber in den unzähligen Telefonaten mit anderen Kollegen war deren Sorgen deutlich spürbar.
Und der größte Horror war, jemand anderen anzustecken, einfach weil man von seiner Erkrankung selbst nichts merkt. Vor allem bei denjenigen, deren Angehörige zur COVID-19-Risikogruppe gehören. Ich hatte damals viel mit meinem Mann darüber gesprochen, der glücklicherweise auch kaum Risikofaktoren hat. Wir hatten uns gemeinsam entschieden, dass wir erstmal weitestgehend normal weiterleben und ich mich in der Praxis so gut wie möglich schütze. Nur meine Kinder durften eine Woche vor dem allgemeinen Lockdown nicht mehr mit anderen Kindern spielen, weil ich nicht wollte, dass sich so das Virus verbreiten könnte.
Wir in der Praxis hatten Glück, unser Hygienekonzept scheint aufgegangen zu sein. Keiner aus unserem Team hat sich bisher angesteckt, obwohl wir viele Patienten abgestrichen haben. Teilweise hatten wir initial entsprechend der DEGAM-Empfehlung auch zu Selbstabstrichen angeleitet. Auch das hat gut funktioniert.
Emotional schwierig finde ich jetzt die Nachfrage von Patienten nach den Antikörpertests. In einer Familie war der Familienvater an SARS-CoV-2 verstorben. Seine erwachsene Tochter hatte einen milderen COVID-19-Verlauf, der Sohn hatte zwar Symptome, aber der Abstrich war negativ. Und die Mutter hatte damals keinen Abstrich bekommen, weil sie im Rahmen der damaligen Leitlinien nicht getestet worden war.
Jetzt saß die Mutter vor mir und bat um einen Antikörpertest. Der Test ihres Sohnes sei positiv ausgefallen und jetzt wolle sie es auch wissen. Ich klärte sie ausführlich darüber auf, dass dieser Test nicht bedeute, dass sie sich in Sicherheit wähnen kann. Und ein positives Ergebnis auch nicht bedeutet, dass sie von der Maskenpflicht ausgenommen werden könne. Das war ihr bewusst, aber sie wollte gern den Test.
Also habe ich ihr Blut abgenommen. Als die Patienten gerade aus dem Zimmer ging, hörte ich sie leise sagen: „Ich fürchte nämlich, dass ich es mit nach Hause gebracht habe ... .“ Am liebsten hätte ich sie direkt zurückgerufen, aber da war sie schon zur Tür heraus und die nächsten Patienten warteten, so dass ich es in dem Moment auf sich beruhen lassen musste.
Dieser Satz hat mich die nächsten Tage nicht wirklich losgelassen. Der Antikörpertest war dann auch positiv und ich habe mir bewusst etwas Zeit genommen, damit ich dieses Ergebnis in Ruhe mit ihr besprechen kann und nicht zwischen Tür und Angel am Telefon.
Ich habe sie dann bewusst auf den Satz angesprochen. Sie bestätigte, dass sie sich relativ sicher sei, dass sie es war, die zuerst mit dem Virus infiziert war. Sie war wohl nicht sehr stark symptomatisch, aber rückblickend waren ihre leichten Halsschmerzen wahrscheinlich doch auf eine SARS-CoV-2-Infektion zurückzuführen. Wobei sie sich bis heute nicht erklären kann, wo sie sich angesteckt hat. Glücklicherweise zeigte sich im Verlauf des langen Gesprächs, dass ihr durchaus bewusst ist, dass sie nichts von ihrer Infektion wissen konnte. Und sich deswegen auch die Schuldgefühle bezüglich des Todes ihres langjährigen Ehemannes in Grenzen halten. Sie konnte damit wirklich gut umgehen.
Leider hab ich aber auch Patienten kennengelernt, die in anderen Fällen noch nach Jahren unter Schuldgefühlen litten. Der Kollege, der sich bis heute fragt, ob er die Pneumokokken-Meningitis seines Säuglings von der Arbeit mit nach Hause gebracht hat. Die Mutter, die sich fragt, inwiefern die Frühgeburt ihres Kindes auch irgendwie durch ihr Verhalten verschuldet war– und so weiter.
Mit den Schuldgefühlen der Betroffenen umzugehen, finde ich als Ärztin schwierig. Gerade bei Corona lassen sich ja rückblickend teilweise die Infektionsketten anhand von Antikörpern nachvollziehen. Aber im Moment der Ansteckung wussten es die Leute ja nicht. Einige wenige sind einfach unvorsichtig („Wird schon nichts passieren“), bei den meisten Patienten, zumindest bei uns, war es aber einfach Unwissen.
Wie kann ich den Patienten beim Umgang mit ihren Schuldgefühlen helfen? Vom rein logischen Standpunkt wissen sie ja, dass sie nicht vorsätzlich gehandelt haben. Aber das hilft bei solchen Gefühlen nur wenig. Manchmal versuche ich, den Leuten mit kurzen Gesprächen zu helfen und ihre Ressourcen zu stärken. Manchmal sind es Buchempfehlungen. Aber manchmal bleibt auch nur die Überweisung zum Psychotherapeuten, damit einfach wirklich genug Zeit ist, dass der Patient intensiver auf diese Gefühle eingehen kann. Denn das können wir Ärzte leider nicht immer leisten.
Wobei ich es beruhigend finde, dass im Verlauf doch meistens die Zeit die Wunden heilt. Oder sogar aus solchen Schuldgefühlen ein positiver Anstoß für den Rest des Lebens entspringt. Wie der Kollege, dessen Kind an der Pneumokokken-Meningitis gestorben ist. Er unterhält sich heute immer wieder intensiv mit seinen Patiententen, um sie von den notwendigen und empfohlenen Impfungen zu überzeugen. Damit sie und ihre Kinder geschützt sind. Zu der Zeit, als sein Kind klein war, ging das leider noch nicht, weil es die Pneumokokkenimpfung im Säuglingsalter noch nicht gab.
Jetzt geht es, aber die wenigsten wissen, was passieren kann, wenn nicht geimpft wird. Er weiß es und kann anderen helfen, aus seinem Schicksal zu lernen. Und daraus dann wieder ein positives Lebensgefühl ziehen. Und das ist dann auch für mich als Hausarzt, der ja auch diese Patienten mit ihren Schuldgefühlen über Jahre begleitet und sieht, wie sie oft daran wachsen, ein schönes Gefühl.
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