England, 4. März 2018: Auf den russischen Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter wird ein Nervengiftattentat verübt. Ermittler spekulieren, ob bei dem Anschlag ein Kampfstoff aus der gefährlichen Nowitschok-Gruppe zum Einsatz kam. Wie wirken Gifte dieser Art?
Der russische Doppelagent Sergej Skripal (66) und seine Tochter Yulia (33) wurden am 4. März dieses Jahres bewusstlos auf einer Parkbank in der südenglischen Kleinstadt Salisbury aufgefunden. Laut Meldungen befinden sie sich weiterhin in einem kritischen Zustand. Insgesamt mussten 21 Menschen im Krankenhaus behandelt werden, darunter auch ein Polizist. Die britische Premierministerin Theresa May erhob derweil in einer Rede vor dem Parlament schwere Vorwürfe in Richtung Moskau: „Es ist höchst wahrscheinlich, dass Russland für diese Tat verantwortlich ist“, sagte sie. Der Fall erinnert an den Mord an dem Ex-Agenten und Kremlkritiker Alexander Litwinenko, der 2006 in London mit radioaktivem Polonium-210 vergiftet wurde. Die Spuren der Täter führten damals ebenfalls nach Moskau. Im aktuellen Fall fanden britische Ermittler Nervengift in einem von dem russischen Doppelagenten besuchten Pub. Auch ein italienisches Restaurant in der Nähe des Pubs wurde im Rahmen einer Vorsichtsmaßnahme geschlossen. Bei dem Nervengift handelt es sich um ein Gift aus der Gruppe der Phosphorsäureester. Das ist nicht der erste spektakuläre Anschlag mit einem Stoff aus dieser Toxingruppe. Laut Daily Mail schließen die Ermittler die Nervenkampfstoffe Sarin bzw. VX zwar mittlerweile aus, dennoch lohnt sich ein Blick auf bisherige Anschläge und die verschiedenen Gifte, die dabei zum Einsatz kamen. Welche Wirkungsmechanismen stecken hinter den gefährlichen Nervengiften?
Bei einem Anschlag am 11. September 1978 in London starb der bulgarische Schriftsteller Georgi Markow an einer Rizin-Vergiftung. Markow lebte im Londoner Exil, da er sich kritisch gegenüber dem Regime von Staatschef Todor Zhivkov geäußert hatte. Die Spuren führten auch hier nach Moskau. Ein Agent soll das aus dem Samen der Rizinuspflanze stammende Gift Rizin in die Spitze eines präparierten Regenschirms gefüllt haben. Diesen rammte er Markow in den Fuß, der vier Tage später verstarb. Am 20. März 1995, kurz nach acht Uhr morgens, platzten in der Tokioter U-Bahn fünf Plastiksäckchen mit dem Nervengift Sarin. Die japanische Endzeitsekte AUM Shinrikyo ging dabei jedoch dilettantisch vor, sodass 13 Menschen starben, ca. 5.000 wurden verletzt. Bei anderer Durchführung hätte es weitaus mehr Tote gegeben. Das Akronym Sarin steht für die Erfinder Schrader, Ambross, Ritter und von der Linde. Letztes Jahr starb Kim Jong-nam innerhalb von 20 Minuten, nachdem eine Frau ihm auf dem Flughafen von Kuala Lumpur ein Nervengift ins Gesicht geschüttet hatte. Am Leichnam des Halbbruders von Nordkoreas Machthaber Kim Jong-un fand man das Gift VX, die potentere Variante von Sarin.
Die Nervenkampfstoffe aus der Gruppe der Phosphorsäureester werden in unterschiedliche Gruppen eingeteilt:
Wissenschaftliche Fakten zu der Nowitschok-Giftgruppe sind verständlicherweise rar und es existieren kontroverse Meinungen über Zusammensetzung und Logistik. Viele Gifte aus dieser Gruppe existieren als sogenannte Binärversionen. Dabei ist jede einzelne Komponente relativ untoxisch, erst die Reaktion beider bildet das Neurotoxin. Die Nowitschok-Gifte bestehen beispielsweise aus Acetonitril und einer organischen Phosphatverbindung, eine andere Version benötigt lediglich die Zugabe von Alkohol zur Bildung des toxischen Wirkstoffs.
Im Körper blockieren organische Phosphorsäureester nahezu irreversibel die Acetylcholinesterase in den Synapsen des parasympathischen vegetativen Nervensystems, den cholinergen Synapsen des sympatischen Anteils des vegetativen Nervensystems sowie an der neuromuskulären Endplatte. Es kommt dadurch zu einem Anstieg des Neurotransmitters Acetylcholin in der Synapse und somit zu einer Dauererregung der betroffenen Nervensysteme. Zu Beginn einer Vergiftung kommt es zu Auswirkungen an den Organen, die vom Sympathikus beeinflusst werden, da der muskarinische Acetylcholinrezeptoren erheblich empfindlicher auf eine erhöhte Menge an körpereigenem Acetylcholin reagiert als der Nikotinische Acetylcholinrezeptoren. Im Vordergrund stehen deshalb Symptome wie Speichelfluss, Diarrhoe und vermehrte Sekretion durch eine Erregung der Drüsen der glatten Muskulatur, des Gastrointestinaltrakts, der Bronchien und der Augen. Als Leitsymptom sind die stecknadelkopfgroßen Pupillen anzusehen. Findet keine Therapie statt, so tritt der Tod durch Atemlähmung ein. Gelegentlich kann es bei sehr schweren Vergiftungen zu einer präganglionären cholinergen Sympathikusstimulation mit endogener Katecholaminfreisetzung kommen. Dies äußert sich durch folgende Vergiftungssymptomatik: Die Pupillen sind erweitert (Mydriasis), die Pulsfrequenz ist gesteigert und der Blutdruck erhöht.
Eine Antidottherapie mit Atropin sollte so früh wie möglich nach Behebung des Sauerstoffmangels einsetzen. Es bewirkt eine Blockierung der zentralen und peripheren muskarinischen Acetylcholinrezeptoren und hemmt somit als kompetitiver Antagonist die Wirkung von Acetylcholin an den parasympathischen Nervenendigungen. Da Atropin die Blut-Hirn-Schranke nur sehr langsam überwindet, sind extrem hohe Dosen erforderlich, die bei einem Gesunden tödlich sein könnten. Als zweites Antidot steht Obidoxim zur Verfügung, das in der Lage ist, bereits blockierte Acetylcholinesterase zu reaktivieren. Obidoxim kann die durch Phosphatgruppen blockierte Acetylcholinesterase reaktivieren, indem die Phosphatgruppe auf das Oxim übertragen wird. Das Oxim besitzt also eine höhere Affinität zum Toxin als das Toxin zur Acetylcholinesterase. Standen Hemmstoff und Acetylcholinesterase jedoch längere Zeit in Kontakt und ist somit das Enzym phosphoryliert, so ist keine Reaktivierung mehr möglich. Die Gabe von Obidoxim sollte frühestens fünf Minuten nach der Verabreichung von Atropin erfolgen. Eine Applikation ohne Atropingabe ist kontraindiziert.
Die wichtigste Maßnahme neben der Gabe von Antidoten ist die Dekontamination. Die Penetrationsfähigkeit der Nervenkampfstoffe ist so groß, dass übliche Handschuhe des Rettungsdienstpersonals nicht ausreichen. Die Spezialeinheiten der Feuerwehr verfügen über spezielle Schutzkleidung. Bei der Kontamination der Haut sind spezielle Maßnahmen erforderlich. Schwedische Forscher untersuchten in vitro an humanen Hautzellen die Dekontaminationswirksamkeit von vier kommerziell erhältlichen Hautdekontaminationsprodukten nach der Exposition mit dem Nervengift VX. Die Produkte waren Reactive Skin Decontamination Lotion (RSDL), das schwedische Dekontaminationspulver 104 (PS104), die saugfähige Bleicherde Fuller’s Earth und die wässrige Lösung AlldecontMED. Die Wirksamkeit jedes Dekontaminationsproduktes wurde 5 oder 30 Minuten nach dermaler Anwendung von VX – pur oder verdünnt in Wasser – bewertet. Die RSDL-Lotion war bei der Reduzierung der Penetration von VX durch die menschliche Haut überlegen. Ein Tupfen mit dem RSDL-Schwamm über zwei Minuten zeigte eine verminderte Wirksamkeit im Vergleich zur 30-minütigen Anwendung der RSDL-Lotion. Die Dekontamination mit Fuller's Earth und AlldecontMED konnte die Penetration von VX durch die menschliche Haut deutlich reduzieren. PS104-Pulver hingegen reichte für die Dekontamination von VX zu beiden Zeitpunkten nicht aus, unabhängig von der Hautkontaktzeit von PS104. Der PS104-Slurry - eine Mischung aus PS104-Pulver und Wasser - hat die Dekontaminationswirkung leicht verbessert.
Die Dekontamination durch Waschen mit Wasser führte nur zu einer signifikanten Reduktion des eingedrungenen VX, wenn das Waschen 5 Minuten nach der Exposition durchgeführt wurde. Nach 30 Minuten war die Dekontamination mit Wasser nutzlos. Für die Praxis ist dies eine wichtige Erkenntnis, da die Dekontaminationseinheit der Feuerwehr wohl kaum nach fünf Minuten vor Ort ist. Wasser kann die Permeation von reinem VX dann sogar steigern. In einer weiteren Studie wurde die Wirksamkeit von RSDL-Lösung zur Dekontamination von VX untersucht. Die frühe Dekontamination von VX mit RSDL, die 5 bis 10 Minuten nach der Hautbelastung eingeleitet wurde, war sehr effektiv. Eine verzögerte Dekontamination, die 30 bis 60 Minuten nach der Exposition eingeleitet wurde, war weniger effektiv, aber dennoch wurde die Menge des eingedrungenen Wirkstoffs signifikant reduziert, während ein weiterer verzögerter Beginn der Dekontamination nach 120 Minuten zu einer sehr geringen Wirksamkeit führte. Ein Ergebnis der Studie war, dass das lipohile VX durch den erhöhten pH-Wert der Dekontaminationslösung abgebaut wird. Martin Weber und Christoph A. Deze vom zentralen Institut des Sanitätsdienstes der Bundeswehr München, Laborgruppe Chemie der Gifte/Kampfstoffanalytik haben ein Zwei-Komponentenspray zur Dekontamination entwickelt. Eine Ablösung und Verdünnung der Chemikalien ist ebenso wie eine Adsorption an Feststoffen bei VX und anderen Nervenkampfstoffen nicht ausreichend. Auch ein Abbau durch alkalische oder saure Lösungen ist nur bei wenigen Chemikalien sinnvoll. „Eine schnell wirksame und breit wirkende Entgiftung von Chemikalien kann nur durch starke Oxidationsmittel erfolgen, so das Ergebnis der Arbeitsgruppe. Nachteile von Oxidationsmitteln ist deren geringe Stabilität und deren reizende Wirkung auf die Haut. Fraglich bleibt auch, wie genau der Agent und seine Tochter mit dem Gift in Kontakt kamen. Im Internet wird der Vorfall auf sämtlichen Plattformen und in den sozialen Netzwerken diskutiert. Besonders häufig liest man die Vermutung, dass ein präparierter Blumenstrauß Träger des Toxins war. Dabei handelt es sich aber nur um eine von vielen unterschiedlichen Theorien.