„Nicht jedes Mal erschrecken, wenn wir uns die aktuellen Infektionszahlen ansehen.“ Das findet Virologe Hendrick Streeck angesichts des bevorstehenden Herbstes wichtig. Worauf wir uns stattdessen konzentrieren sollten, erklärt er exklusiv im Interview.
Mira Knauf: Anfang des Jahres ging es uns allen noch so, dass wir nicht geahnt haben, welches Ausmaß Sars-CoV-2 erreichen würde – auch Ihnen als Virologe. So haben Sie im Februar bei Stern-TV beispielsweise gesagt, man solle lieber mehr Aufklärung zum Thema Grippe machen, als so viel über Corona zu berichten. Wie geht es Ihnen, wenn Sie diese damaligen Momentaufnahmen aus jetziger Sicht betrachten?
Hendrick Streeck: Wissenschaft ist immer Wissen auf Zeit. Wir befinden uns in einem dauerhaften Lernprozess im Wissen um Corona. Anfang des Jahres wussten wir nicht, um welche Art von Infektion es sich handelt. Wir dachten damals, das Virus – wie bei SARS – repliziert in der unteren Lunge, wodurch es weniger Übertragungen gibt. Später hat sich herausgestellt, dass sich das Virus im Rachen repliziert.
Wenn man zurückschaut, sind viele der Aussagen – ob von mir oder von anderen – immer in diesem Kontext von „Wissen auf Zeit“ zu sehen.
In einer laufenden Pandemie kommt der Universitätsmedizin eine zentrale Rolle zu: Es muss live und unter Druck geforscht werden. Wie zufrieden sind Sie mit der Rolle der Universitätsmedizin und der Forschung bisher?
Zufrieden bin ich damit nicht. Das ist kein Vorwurf an irgendjemanden, aber es hat sich gezeigt, dass wir im gesamten Forschungsbereich und in Bezug auf jede einzelne Universitätsmedizin nicht gut genug koordinieren.
Leider hilft es auch nicht, diese strukturellen Probleme kurzfristig mit Geld lösen zu wollen. Viel Geld in ein Projekt zu pumpen, hilft bei dieser suboptimalen Vernetzung nicht. Außerdem fehlt trotzdem das Personal, um für drei oder sechs Monate etwas zu erforschen.
Um Mitarbeiter dafür zu gewinnen, ihre Arbeit liegen zu lassen und einer anderen Aufgabe nachzugehen, muss man Perspektiven bieten. Einer Stelle, die auf zehn Monate befristet ist, mangelt es dementsprechend an Attraktivität .
Diese Pandemie zeigt daher grundlegende Fehler im deutschen Wissenschaftssystem auf.
Ist das etwas, das speziell auf Deutschland zutrifft und das im internationalen Vergleich besser klappt?
Das lässt sich allgemein nur schwer vergleichen. Ich zum Beispiel bin international dadurch, dass ich lange in den USA gearbeitet habe, gut vernetzt.
Das Interessante für mich ist, dass ein großer Teil der Forscher, die in der jetzigen Pandemie forschen, aus dem HIV-Bereich kommt.
HIV und COVID-19 haben die Gemeinsamkeit, dass es sich um Forschung in einer laufenden Pandemie handelt. Viele Fragestellungen aus dem HIV-Bereich, also z.B. die Frage, wie man ein Leben trotz der Pandemie ermöglicht, kennen wir daher, und sind bereits weit gekommen, obwohl die HIV-Pandemie nicht vorbei ist.
Daher geht es vielen der internationalen Forscher, mit denen ich Kontakt habe, genau darum: Wie kann man Forschung und Leben während der Pandemie ermöglichen? Und es geht nicht nur darum, welche bestimmten Eigenheiten bei welchen Viren auftreten.
Sie sagen, man sollte sich nicht zu sehr mit dem Virus und dessen Eigenheiten an sich beschäftigen und sich mehr auf die Fragen konzentrieren, wie man ein Leben in der Pandemie ermöglicht. Bedeutet das auch, dass wir derzeit zu viel Hoffnung in eine Impfung setzen?
Gerade wenn man aus dem Impfbereich kommt und in vielen Advisory Boards und Steering Committees für Impfstoffe gesessen hat, weiß man: Man muss konkrete Aussagen darüber, wann ein Impfstoff vorhanden sein wird, mit Vorsicht betrachten.
Wir haben bisher gegen keine der größten infektiologischen Herausforderungen einen Impfstoff gefunden, obwohl daran intensiv geforscht wird. Ob Dengue, Tuberkulose, HIV, Malaria, sogar Hepatitis C – wir haben auch keinen Universalimpfstoff gegen die Grippe.
Es kann sein, dass wir sehr schnell einen Impfstoff gegen Sars-CoV-2 finden, das will ich gar nicht ausschließen. Aber es kann genauso sein, dass sich die Suche sehr kompliziert gestaltet.
Und dieses Gebiet beinhaltet auch komplexe Bereiche, über die derzeit in der Öffentlichkeit kaum gesprochen wird. So kann es durch eine Impfung beispielsweise zu einer Verstärkung der Infektion kommen, durch sogenannte infektionsverstärkende Antikörper. Ein typischer Effekt, den wir bei Dengue beobachtet haben, aber auch bei RSV.
Wenn man sich nach einer Impfung trotzdem infiziert, kann es einen viel schlimmeren Verlauf geben. Im Rahmen eines RSV-Impfversuchs sind an der verstärkten Immunreaktion sogar Kinder gestorben. Für MERS wurde dieser Effekt ebenso beschrieben. Ob es den auch bei Sars-CoV-2 geben kann, wissen wir einfach nicht.
Ich bin Impf-Fan, aber man kann nicht drauf bauen, dass der erste Impfstoff ein goldener Treffer sein wird.
Zumal es ja auch so sein kann, dass man trotz Impfung das Virus weitergeben kann.
Das hängt von den Impfstoff-Konstrukten ab. Ein Impfstoff, der z.B. die T-Zell-Antwort induziert, wie der Impfstoff AZD1222 von AstraZeneca, schützt nicht vor einer Infektion, aber beeinflusst den Schweregrad des Verlaufes, das kennen wir auch vom STEP-Trial aus dem HIV-Bereich.
Das heißt, dass Sie immer noch einen kratzigen Hals bekommen und eine Infektion des oberen Rachens auftritt, aber keine Lungenentzündung. Das bedeutet aber auch, dass das Virus im oberen Rachen repliziert und weitergegeben werden kann.
Um noch mal auf die Rolle der Forschung zurückzukommen: Wenn man in einer laufenden Pandemie forscht, gehört es unter anderem dazu, dass man Zwischenergebnisse präsentiert. Die Präsentation der Zwischenergebnisse der Heinsberg-Studie hat im Frühjahr für viel Wirbel und auch Ärger gesorgt. Wie ging es ihnen damit?
Was mich gewundert und irritiert hat, war, dass man mehr über die Verpackung als über den Geschmack gesprochen hat. Und die Verpackung auch wichtiger gewesen zu sein scheint.
Viele der Dinge, die wir damals entdeckt haben, hätten in der Diskussion eine größere Rolle spielen sollen. Es gab auch positive Aspekte in unseren Ergebnissen, da scheint es mir im Nachgang fast so, als wenn man diese nicht hören wollte.
Wurden diese positiven Aspekte denn eher medial oder auf wissenschaftlicher Ebene ignoriert?
Ich glaube, auf beiden Ebenen. In der Wissenschaft sind unsere Ergebnisse international, z. B. in den USA, viel diskutiert worden, in Deutschland eher weniger.
Das Wichtige an den Ergebnissen war für mich, dass wir erste Hinweise dafür haben, dass die Infektionsdosis, also die Menge der Viren, die man bei erster Infektion abbekommt, eine Rolle im Hinblick auf die Schwere des Verlaufes spielen kann.
Ein Hinweis ist natürlich noch kein Beweis, da muss man klar trennen. Aber dennoch ist das in meinen Augen ein wichtiger Aspekt. Denn das könnte eine Erklärung für die vermehrt asymptomatischen Verläufe sein, auch wenn dies natürlich nicht bewiesen ist. Durch unsere Hygieneregeln, Abstandhalten und Maske tragen, setzen wir die Infektionsdosis herunter.
Der mediale Blick konzentriert sich sehr auf die aktuelle Entwicklung der Infektionszahlen. Halten Sie das für sinnvoll?
Im Moment starren wir gebannt auf die Infektionszahlen. In einer Phase, in der die stationäre und intensivstationäre Versorgung ziemlich frei von Infektionen ist. Wir haben derzeit ungefähr 200 Covid-19-Patienten auf den Intensivstationen. Aber der Herbst steht bevor und da ist aufgrund verschiedener Faktoren mit massiven Zahlen zu rechnen.
Daher stellt sich für mich die Frage: Interessieren uns wirklich primär und ausschließlich die Infektionszahlen? Oder nicht vielmehr die Zahlen der freien stationären Betten. Ich plädiere daher dafür, dass wir von dieser isolierten Sicht auf die Infektionszahlen wegkommen. Stattdessen brauchen wir eine Ampel, um den Überblick in den Kliniken zu behalten: Bis zu einer bestimmten Grenze von stationärer Belegung bleibt die Ampel grün.
Wir haben in den letzten sechs Monaten viel gelernt und viele Daten über die Pandemie entwickelt, anhand derer wir gute Grenzen bestimmen können. Wenn ein Grenzwert überschritten wird, springt sie auf gelb oder rot. In diesem System würde ein Puffer eingebaut sein, mit dem wir berechnen können, ab wann wir das Gesundheitssystem überlasten.
Derzeit warnen Experten vielerorts davor, dass wir die Grenzen unserer Testkapazitäten bereits erreicht haben.
Genau, wenn es nicht Änderungen im Testverfahren gibt, ist das bedenklich.
Das gleiche Test-System wird ja ebenso für die Grippe verwendet. Im Herbst wird praktisch jeder einmal eine Erkältung haben und mit Husten oder kratzigem Hals auf COVID-19 getestet werden. Wir werden extrem viel testen müssen, wenn wir uns nicht wieder auf anlass- und symptombezogene Tests konzentrieren.
Zumal die Tests für Reiserückkehrer derzeit auch zu früh stattfinden, da man sie nur bis 72 Stunden nach Reiserückkehr erstattet kriegt.
Auch das ist ein Problem: Es gibt keinen richtigen Zeitpunkt zu testen. Also sollte man bei Symptomen testen oder wenn es konkrete Hinweise auf eine Infektionskette gibt. Oder bei Clusterausbrüchen, da würde ich auch weiterhin testen, weil wir bei solchen größeren Clustern nicht wissen können, wie viele Personen mit einem Schlag infiziert wurden.
Aber wir als Gesellschaft müssen davon wegkommen, nicht zu differenzieren, was für Infektionen wir vor uns haben, was die Schwere der Infektionen angeht. Aus meiner Sicht ist es kurzsichtig, sich zu sehr auf die Infektionszahlen zu versteifen. Und im Herbst erwarten uns Anstiege, die bei weitem über dem jetztigen Niveau liegen.
Wenn Sie sagen, wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben, meinen Sie dann auf die gleiche Art, wie wir auch gelernt haben mit der Influenza zu leben?
Es wird nicht möglich sein, das Virus ohne einen Impfstoff zu eradizieren. Einen Erreger auszurotten, haben wir bisher nur selten geschafft, zum Beispiel bei den Pocken.
Wir müssen daher jetzt nach vorne blicken und nicht jedes Mal erschrecken, wenn wir uns die aktuellen Infektionszahlen ansehen.
Wie gestalten wir ein Leben in der Zeit, in der das Virus da sein wird? Denn auch wenn ein Impfstoff kommt: Bis genug Menschen geimpft werden, dauert es mindestens ein Jahr. Impfdosen müssen erstellt werden, Brückenstudien gemacht werden, um zu klären, ob die Impfung für Kinder sicher ist. Am Ende stellt sich die Frage, wer zuerst geimpft werden soll?
Es gibt daher viel zu bedenken und deshalb müssen wir uns vor allem pragmatische Lösungsansätze ausdenken, mit denen wir trotzdem ein Leben ermöglichen. Dabei ist es in Ordnung, Fehler zu machen. Nur so lernt man in einer Pandemie.
Das Schlimmste, was wir machen können, ist es, uns von der Angst leiten zu lassen und uns ausschließlich darauf zu konzentrieren, dass wir die reinen Infektionszahlen in den Griff bekommen.
Thema Heinsberg-Studie, zweiter Teil: Der Beginn hat sich ja etwas verzögert. Sind Sie mittlerweile gestartet?
Der Beginn verzögert sich noch etwas. Da wir die Untersuchung diesmal von der Struktur etwas anders aufgesetzt haben und wir auch die Hausärzte mehr mit einbinden. Ich bin aber zuversichtlich, dass es bald losgeht.
Ist die Rolle der Medien in der Corona-Krise schwierig?
Ich habe bemerkt, dass man in vielen Bereichen falsch verstanden wird. Das liegt sicherlich auch daran, dass man die Widersprüche, die in der wissenschaftlichen Welt immer vorkommen, in einer verkürzten Weise nicht darstellen kann. Und um auf den Anfang zurück zu kommen: Es ist immer ein Wissen auf Zeit, man hat keine Absolutheit. Alles, was man sagt, muss eine Form der differenzierten Meinungsäußerung sein.
Keiner kann wirklich Vorhersagen machen, aber es kann sehr wohl Hypothesen und Spekulationen geben, die trotzdem wissenschaftsbasiert sind, auch wenn sie vorerst eine Hypothese sind. Problematisch wird es immer dann, wenn verkürzt und vereinfacht dargestellt wird. Weil eine Absolutheit in der Wissenschaft ganz einfach nicht existiert.
Was macht man in einer solchen Situation? Als Wissenschaftler kann man sich verkriechen, das habe ich auch überlegt, oder aber man äußert weiterhin qualifiziert seine Meinung.
Haben Sie im zweiten Teil der Heinsberg-Studie Kritikpunkte berücksichtigt, die zum ersten Teil geäußert wurden? Also beispielsweise die mangelnde Repräsentativität der Stichprobe und Sterblichkeit?
Diese Punkte haben sich als unbegründete Kritik herausgestellt. Wir haben einen leichten Überhang bei den Älteren und dafür weniger Kinder. Die Stichprobe wurde repräsentativ gezogen, aber ein Problem war, dass die Eltern nicht wollten, dass ihren Kindern Blut abgenommen wird.
Ich habe auch gelesen, dass die Repräsentativität der Sterblichkeit kritisiert wurde, aber die Todeszahlen können wir nicht beeinflussen. Wir hatten unsere Studie so definiert, dass wir mit Studienende die Todeszahlen erfasst haben. In den zwei Wochen danach ist noch jemand an COVID-19 gestorben. Die Person haben wir in der Diskussion der Publikation miteinbezogen.
Es lässt sich sagen: Die Studie ist repräsentativ für Gangelt. Um für ganz Deutschland Repräsentativität zu erreichen, müsste man deutschlandweit Stichproben ziehen.
Was erhoffen Sie sich vom zweiten Teil der Studie?
Ich hoffe, dass wir zeigen können, dass diejenigen, die einmal infiziert waren, sich nicht wieder infizieren werden. Bei derzeit über 26 Millionen bereits SARS-CoV-2-infizierten Personen, sind die beiden beschriebenen Fälle echte Ausnahmen.
Ich hoffe also, dass es eine Immunität durch die Infektion gibt. Und diese vielleicht sogar einen Einfluss auf den weiteren Infektionsverlauf in der Bevölkerung haben kann, sodass sich weniger Menschen infizieren.
Bildquelle: Liam McGarry, unsplash