Maligne Erkrankungen geben immer noch so manche Rätsel auf – gerade bei einer Metastasierung ist die Prognose schlecht. Sollten wir mehr auf die Tumormikroumgebung achten?
Krebs entsteht, wenn sich Zellen unkontrolliert teilen und potenziell unsterblich werden. Grund dafür sind Mutationen in verschiedenen Genen – entweder ererbt oder durch Umweltfaktoren ausgelöst. Diese Sequenzen im Erbgut steuern unter anderem Prozesse rund um die Zellteilung, das Wachstum oder die Apoptose. Soweit, so bekannt. Nur häufen sich Hinweise, dass neben Zellen selbst die biochemische Umgebung eine wichtige Rolle spielt. Was wissen wir bereits? Und woran wird geforscht?
Ein kurzer Rückblick: Bereits 1974 warnte der israelische Mediziner und Krebsforscher Isaac Berenblum (1903 bis 2000): „Wir befinden uns gegenwärtig im Zeitalter der Molekularbiologie und werden möglicherweise übermäßig vom genetischen Code als dem vorherrschenden Prinzip in der Biologie beeinflusst. Vielleicht verschiebt sich das vorherrschende Prinzip in ein oder zwei Jahrzehnten auf eine andere Ebene, was wiederum unsere Spekulationen über die Tumorursache beeinflussen wird.“ Er sollte Recht behalten. Denn genetische Mutationen allein reichen nicht aus, um solide Tumoren zu erklären.
James DeGregori von der Medizinischen Fakultät der Universität von Colorado spricht plakativ von einer „Infrastruktur“, welche einzelne Tumorzellen bräuchten, um zu wachsen, einen soliden Tumor zu bilden und später zu metastasieren.
Beginnt die Karzinogenese, entarten einzelne Zellen. Sie sind jedoch in einen Verbund aus nativen Zellen, der Tumormikroumgebung, eingebettet. Das können beispielsweise glatte Muskel-, Endothelzellen, Zellen des Immunsystems, Fibroblasten oder Adipozyten sein. Trotz ihrer potenziellen Unsterblichkeit kann ein Tumor nicht wachsen oder gar metastasieren, wenn es ihm nicht gelingt, das umgebende Milieu für seine Zwecke zu nutzen.
Berenblum und DeGregori sollten recht behalten: Nach jahrzehntelanger Forschung wird das Prinzip, malignen Zellen quasi das Wasser abzugraben anstatt sie direkt zu attackieren, therapeutisch eingesetzt. Wissenschaftler erkannten, dass sich zwischen dem Tumor selbst und seiner Mikroumgebung Blutgefäße bilden müssen. Ansonsten wächst die Geschwulst nicht weiter. Bei dieser Vaskulogenese werden vom Tumor mit Botenstoffen endothelialen Vorläuferzellen angelockt. Sie gelangen bis zur Stelle der Ausschüttung und bilden neue Blutgefäße.
Mit dem vaskulären endothelialen Wachstumsfaktoren (VEGF, Vascular Endothelial Growth Factor) fanden Wissenschaftler ein Signalmolekül der Vaskulogenese. Er wird von unterschiedlichen Tumoren ausgeschüttet. Die Strategie, VEGF abzufangen, hat sich gewebeunabhängig bei vielen Krebserkrankungen bewährt. Onkologen setzen dabei auf Antikörper wie Bevacizumab. Eine andere Strategie ist, den VEGF-Rezeptor mit Tyrosinkinase-Hemmern zu blockieren. Das gelingt unter anderem mit Sunitinib, Sorafenib, Ramucirumab und Vatalanib.
Auch der Plazentawachstumsfaktor (PlGF) wird mit der Vaskulogenese in Zusammenhang gebracht. Er wird nicht nur während der embryonalen Entwicklung, sondern auch beim Wachstum von Tumoren exprimiert. Er ist ebenfalls eine interessante Zielstruktur für Therapien. Doch das Konzept der Tumormikroumgebung hat weitaus mehr zu bieten.
Welche Rolle die „Infrastruktur“ (DeGregori) womöglich spielt, zeigen ein paar Zahlen: Krebs im Dünndarm tritt 100 Mal seltener auf als im Dickdarm – obwohl der Dünndarm fünf Mal länger ist. Denkt man jetzt nur an statistische Mutationsrisiken, passt das nicht zusammen. Die Mikroumgebungen unterscheiden sich jedoch auffallend, da im Dickdarm vielfältigere und zahlreichere Mikrobiota vorkommen. Darüber hinaus treten Karzinome fast ausschließlich im distalen Dickdarm und nicht im proximalen Dickdarm auf, wo die Fermentation am größten und die Konzentrationen an kurzkettigen Fettsäuren wie Butyrat am höchsten ist: eine heiße Spur, doch es gibt noch viel zu tun, um Details herauszufinden.
Auch bei der Metastasierung als Hauptursache der Krebssterblichkeit rückt die Mikroumgebung in den Fokus. Um zu einer Metastase zu werden, müssen sich Tumorzellen absiedeln und in einer fremden Umgebung weitab ihres Ursprungsortes überleben. Wie soll das gehen? Es gibt immer mehr Hinweise darauf, dass Krebszellen dazu ihre Mikroumgebung so manipulieren, dass eine sogenannte metastatische Nische gebildet wird, welche die Lebensfähigkeit der Krebszellen unterstützt.
Bei Brustkrebs zählt Tenascin C zu den heißen Kandidaten. Forscher haben europäische Gelder bekommen, um die Rolle dieses Proteins zu untersuchen. Tenascin C wird in der extrazellulären Matrix verschiedener Gewebe bei gebildet. Verschiedene Botenstoffe, die Tumore ausschütten, führen ebenfalls zur verstärkten Expression. Wissenschaftler heraus, dass Tenascin C bei Brustkrebs die Bildung von Knochen- oder Lungenmetstasen ermöglicht. Dazu werden über Signalkaskaden Stammzellen aus einer Stammzellnische angelockt – und Tenascin C scheint ein Schlüsselmolekül zu sein.
„Die meisten Eigenschaften von Krebszellen sind abhängig von einem bestimmten molekularen Kontext, der durch die Mikroumgebung, etwa durch die Nische, erzeugt werden kann“, sagt Dr. Thordur Oskarsson vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ). Er arbeitet am Thema „metastatische Nischen“. „Daher ist es im Kampf gegen eine Metastasierung wichtig, sowohl auf die Krebszellen als auch auf die Nische abzuzielen.“
Bleibt als Fazit: Schon jetzt zeichnet sich ab, dass sich Moleküle der Mikroumgebung vielleicht als Targets für Pharmakotherapien eignen. Davon sind wir in vielen Fällen aber noch weit entfernt.
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