Schwindel kann unzählige Gründe haben. In diesem Beitrag widme ich mich als Neurologe der Migräne und erkläre, welche Rolle sie in Zusammenhang mit Schwindelsymptomen spielen kann.
Schwindel ist eines der seltsamsten Symptome, das einen ergreifen kann. Häufig ist es sehr schwer in Worte zu fassen: Mir ist so, als drehte ich mich oder mein Umfeld sich, mir ist drieselig, ich fühle mich wie betrunken, es zieht mich zur Seite oder nach hinten, mein Kopf fühlt sich leicht an, ich habe das Gefühl, umzufallen oder gar ohnmächtig zu werden, um nur einige Beispiele zu nennen.
Hinter diesen Äußerungen kann sich eine ganze Bandbreite von HNO-ärztlichen, neurologischen, internistischen, sehr häufig aber auch psychiatrischen Erkrankungen verbergen. Eine präzise Anamnese, verbunden mit einer akkuraten körperlichen Untersuchung kann hier in über 90 % der Fälle sowohl eine Differenzierung zwischen einer zentralen bzw. einer peripheren Genese als auch die genaue diagnostische Zuordnung ermöglichen (so im Detail ausgeführt im Kapitel Hirnnervensyndrome und Schwindel der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, die Leitlinie wird zur Zeit überarbeitet).
Dieser Artikel hat allerdings nicht das Ziel, die gesamte Bandbreite von Schwindelsyndromen und ihrer Genese aufzudröseln, sondern er möchte den besonderen Zusammenhang von Schwindel und Migräne in das Bewusstsein rücken. Beginnen wir mit einigen terminologischen Klarstellungen. Die Bárány Society (benannt nach Robert Bárány, einem Hals-Nasen-Ohren Arzt, der 1914 für seine Untersuchungen zur Funktion des Vestibularapparates den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin erhielt) erarbeitet seit 2009 Kriterien zur Klassifikation von vestibuären Symptomen und Erkrankungen analog der International Headache Society (IHS).
Als vestibuläres System wird das Zusammenspiel von peripher sensorischem Input, zentraler Verarbeitung sowie motorischem Output definiert, das zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts erforderlich ist. Schwindel entsteht immer dann, wenn dieses komplexe Zusammenspiel gestört ist. Die Schwindelterminologie selber ist leider nicht einheitlich und darüber hinaus entsprechen sich englische und deutsche Begriffe nicht.
Eine Befragung, an der 306 amerikanische Hals-Nasen-Ohrenärzte teilnahmen, ergab beispielsweise, dass ca. 45 Prozent „Vertigo“ mit der Wahrnehmung einer Drehbewegung assoziierten, weitere 40 % hingegen mit jeder Art von Bewegungswahrnehmung zwischen Patient und Umwelt. Die Bárány Society hat zunächst die Begriffe „Vertigo“ und „Dizziness“ genauer gefasst. Unter „Vertigo“ wird im Kern die fälschliche Wahrnehmung der Bewegung des eigenen Körpers verstanden, unabhängig davon, ob sie einen Drehimpuls aufweist oder linear ist.
Im Gegensatz zu „Vertigo“ wird „Dizziness“ als Wahrnehmung einer gestörten räumlichen Orientierung betrachtet, ohne dass diese Wahrnehmung mit einer Bewegungsillusion verbunden ist. Die betroffene Person nimmt sich als Ganzes oder möglicherweise nur den Kopf nicht in der Position wahr, die tatsächlich und objektiv eingenommen wird. Im Deutschen gibt es noch keine Entsprechungen für die so neu definierten Begriffe und es ist auch nicht zu erwarten, dass sich der Begriff „Vertigo“ im Deutschen durchsetzen wird. Der Begriff Schwindel wird wahrscheinlich weiterhin als Oberbegriff fungieren und entsprechend der Art der Bewegungsillusion wird man dann als Drehschwindel, Schwankschwindel oder Kippschwindel spezifizieren.
„Dizziness“ wäre am besten als diffuser Schwindel zu bezeichnen, um explizit zu machen, dass keine Bewegungsillusion damit verknüpft ist. Man erkennt aber an der gerade vorgenommenen Differenzierung, dass die von der Bárány Society vorgenommene Begriffspräzisierung sehr wichtig ist, da eine dadurch erreichte verlässlichere Zuordnung von Symptomen als „Vertigo“, „Dizziness“ oder auch dem Nebeneinander von beidem insgesamt die syndromale Zuordnung verbessert.
Nachdem vestibuläre Symptome durch die Bárány Society zunächst generell genauer gefasst und vereinheitlicht wurden, hat sie 2012 in Zusammenarbeit mit der International Headache Society (IHS) ein Konsenspapier zur vestibulären Migräne veröffentlicht, in dem zunächst verbindliche Diagnosekriterien festgelegt wurden. Für die Diagnose notwendig ist zuallererst das wiederholte Auftreten vestibulärer Symptome im oben definierten Sinne, die sich als „Vertigo“ (sowohl spontan als auch induziert) oder auch als „Dizziness“ manifestieren können. Des Weiteren ist eine Vorgeschichte mit Migräne (mit oder ohne Aura) erforderlich sowie die Tatsache, dass migränetypische Symptome wie einseitiger, pulsierender Kopfschmerz, Phono-, Photophobie bzw. eine visuelle Aura in engem zeitlichem Zusammenhang mit den vestibulären Symptomen auftreten.
Oft wird die Schwindelattacke nur durch einzelne Migränesymptome begleitet, beispielsweise eine Lichtempfindlichkeit, während Kopfschmerzen fehlen können. Zuletzt darf das Syndrom durch keine der bekannten Kopfschmerz- bzw. vestibulären Diagnosen hinreichend erklärbar sein. Schätzungen gehen dahin, dass rezidivierender Schwindel nach Ausschluß eines gutartigen Lagerungsschwindels, des Morbus Menière sowie vertebrobasilärer TIAs in 60 bis 80 % der Fälle durch eine vestibuläre Migräne ausgelöst wird. Da bei dieser Diagnose so wie auch bei allen anderen Kopfschmerzarten bislang kein verlässlicher Biomarker zur Diagnose zur Verfügung steht, sondern vordringlich die Anamnese, die körperliche Untersuchung sowie zum Ausschluss anderer Schwindelsyndrome bestimmte technische Untersuchungen durchzuführen sind, sollte ein Patient mit entsprechender Symptomatik an eine spezialisierte Kopfschmerz- bzw. Schwindel-Ambulanz überwiesen werden.
Das chamäleonartige Wesen der Migräne wurde beispielhaft in dem berühmten Migränebuch von Oliver Sachs beschrieben. Die vestibuläre Migräne in ihrer Vielgestaltigkeit, sowohl was die Ausprägung der Schwindelsymptomatik als auch die Assoziation mit typischen Migränesymptomen betrifft, setzt diesem Wesen noch die Krone auf. Umso wichtiger ist hier eine korrekte Diagnose. Evidenzbasierte Behandlungsansätze sind bei der Vestibulären Migräne zwar noch nicht so etabliert wie bei anderen Migräneformen; aber auch in diesem Gebiet haben die Götter die Diagnose vor die Therapie gesetzt.
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