Schlaganfall-Patienten mit einem großen Gefäßverschluss wurden bislang nicht adäquat behandelt. Die Entfernung des Gerinnsels mit einem Spezialkatheter erwies sich nun als hoch wirksam. Doch es gibt zu wenige Neuroradiologen, um den Einsatz dieser Methode zu gewährleisten.
In Deutschland ereignen sich etwa 200.000 Schlaganfälle pro Jahr. Etwa 85 Prozent der Betroffenen erleiden einen ischämischen Schlaganfall: Blutgerinnsel verstopfen eines der Gefäße, die das Gehirn mit Blut versorgen, und das dahinter liegende Hirngewebe stirbt ab. Damit das nicht passiert, sollten Patienten möglichst schnell in einer Spezialstation für Schlaganfälle (Stroke Unit) behandelt werden. Therapie der Wahl ist für viele Patienten seit vielen Jahren die systemische Thrombolyse, in deren Rahmen die Blutgerinnsel durch die intravenöse Gabe von t-PA aufgelöst werden. Wenn ihr Einsatz binnen maximal viereinhalb Stunden nach dem Schlaganfall erfolgt, überstehen rund 50 Prozent der Betroffenen den Schlaganfall ohne schwere Beeinträchtigungen. Bei der anderen Hälfte schlägt das Verfahren nicht an: „Wenn das Blutgerinnsel zu groß ist, dann lässt es sich auf diese Weise nicht vollständig auflösen“, erklärt Hans-Christoph Diener, Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Essen. Für diese Patientengruppe gibt es nun Hoffnung: Diener und weitere Forscher konnten in der SWIFT Prime-Studie [Paywall] zeigen, dass die sogenannte Thrombektomie bei Patienten mit akutem Schlaganfall hoch wirksam ist. Bei diesem Verfahren wird das Blutgerinnsel mithilfe eines Spezialkatheters aus dem verschlossenen Gefäß herausgezogen. Wie die Forscher im New England Journal of Medicine berichteten, behandelten sie weltweit an 39 Zentren 196 Schlaganfall-Patienten, die sie per Zufallsprinzip in zwei Gruppen eingeteilt hatten. Eine Hälfte der Patienten erhielt die neue Therapie plus intravenöse t-PA, die andere Hälfte die bisherige Standardtherapie. Die Dauer der klinischen Studie war wesentlich kürzer als ursprünglich geplant: „Eigentlich wollten wir 800 Patienten einschließen, doch eine Zwischenanalyse ergab, dass die Unterschiede zwischen beiden Gruppen schon bei einer deutlich geringeren Patientenzahl hoch signifikant waren, so dass wir die Studie vorzeitig beenden konnten“, berichtet Diener.
An der Studie nahmen Patienten mit moderaten bis starken neurologischen Beeinträchtigungen teil, bei denen entweder die Arteria carotis interna innerhalb des Schädels, das Anfangsstück der Arteria cerebri media oder beide Gefäße durch ein großes Blutgerinnsel verschlossen waren. Wichtig war die Bildgebung vor der eigentlichen Behandlung, um die geeigneten Patienten auswählen zu können: „Dank schneller CT-Angiographie und Perfusionsmessung konnten wir rechtzeitig in Erfahrung bringen, welche Gefäße betroffen waren und ob noch genügend Hirngewebe vorhanden war, was wir retten konnten“, so Diener. Durchschnittlich 57 Minuten vergingen zwischen Bildgebung und Start der Behandlung mit dem Spezialkatheter, denn auch bei der neuen Methode ist es unabdingbar, dass sie binnen viereinhalb Stunden nach dem Schlaganfall eingesetzt wird. Manuelles Geschick ist vonnöten, wenn der behandelnde Arzt den Spezialkatheder über die Leiste nach oben ins Gehirn des Patienten führt: Dort wird der Mikrokatheter durch das Blutgerinnsel geschoben und ein zunächst zusammengefalteter Stent darüber gelegt. Anschließend wird an einem weiteren Katheter im Hals ein kleiner Ballon aufgeblasen, der verhindert, dass kleine Stückchen des Blutgerinnsels abreißen, so dass der Arzt den zwischenzeitlich entfalteten Stent langsam mit dem Blutgerinnsel herausziehen kann.
Auf diese Weise gelang es den Forschern, 83 Prozent der verschlossenen Hirngefäße wieder vollständig zu öffnen, in der Kontrollgruppe dagegen verschwanden durch die systemische Thrombolyse nur 40 Prozent der Blutgerinnsel komplett. Die Auswirkungen auf die Lebensqualität der Patienten waren gravierend: 60 Prozent der Probanden, bei denen ein Katheter-Eingriff vorgenommen wurde, waren 90 Tage nach dem Eingriff nicht auf fremde Hilfe angewiesen, im Vergleich zur Kontrollgruppe, in der 35 Prozent der Probanden ihre Selbständigkeit behielten. Symptomatische Blutungen traten binnen 27 Stunden nach dem Eingriff nur in der Kontrollgruppe bei drei Studienteilnehmern auf. „Für Patienten mir schweren Schlaganfällen sind die Ergebnisse spektakulär“, sagt Diener. „Wir hatten zum Beispiel komplett gelähmte Patienten, die nur eine Stunde nach dem Eingriff quasi beschwerdefrei waren. Auch für jemanden wie ihm, der schon sehr lange Schlaganfall-Patienten behandele, komme dies einem Wunder gleich. Andere Experten schließen sich Dieners Einschätzung an: „Der Eingriff mit dem Spezialkatheter ist ein Quantensprung, da wir bislang keine wirksame Therapie für Patienten mit großen Blutgerinnseln hatten“, sagt Jens Fiehler, Direktor der Klinik und Poliklinik für Neuroradiologische Diagnostik und Intervention am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. „Ein weiteres starkes Signal der Studie ist, dass das Verfahren überall, egal, ob in Deutschland, Südkorea oder den USA, völlig überzeugend funktioniert hat.“ Allerdings, so Fiehler, seien in der Studie nur Patienten mit großen Verschlüssen im Bereich des vorderen Hirnkreislaufs aufgenommen worden. Ob man die Ergebnisse auch auf Gefäßverschlüsse im hinteren Hirnkreislauf übertragen könne, lasse sich aus dieser Studie nicht ableiten.
Die positiven Ergebnisse der Studie legen den Schluss nahe, dass alle Patienten mit großen Gefäßverschlüssen im vorderen Hirnkreislauf mit dem neuen Verfahren behandelt werden sollten. Das stößt jedoch an logistische Grenzen: „Es gibt derzeit in Deutschland nicht genügend Neuroradiologen, dass es flächendeckend überall zum Einsatz kommen könnte“, findet Diener. „Deshalb müssen kleine Schlaganfallzentren ohne Neuroradiologen eng mit größeren Zentren zusammenarbeiten und dafür sorgen, dass für eine Katheterbehandlung geeignete Patienten schnell dorthin transportiert werden.“ Auch wenn in dieser Hinsicht noch einige Optimierungsmöglichkeiten vorhanden sind, so geht Fiehler davon aus, dass es trotz allen Bemühungen immer Schlaganfall-Patienten geben wird, für die eine effektive Behandlung mit dem neuen Verfahren zu spät kommt. Der in der Studie verwendete Spezialkatheter, im Fachjargon auch Stent-Retriever genannt, wurde von der Firma Covidien entwickelt, die die Studie finanzierte. Diese sollte zeigen, dass Schlaganfall-Patienten einen Nutzen vom neuen Stent-Retriever haben, da nur dann Krankenkassen die Kosten der Behandlung übernehmen. Fiehler hält die Finanzierung der Studie durch den Hersteller für einen Vorteil: „Ein Unternehmen wie Covidien kann es sich absolut nicht leisten, solch eine Studie zu manipulieren. Die Qualität der Daten wird deshalb sehr groß sein.“
Die Studie reiht sich in eine Serie weiterer kürzlich veröffentlichter Untersuchungen ein, die ebenfalls zeigten, dass das Entfernen eines Blutgerinnsels mit einem Katheter hoch wirksam ist. Alle diese Studien wichen im Design geringfügig voneinander ab und hatten unterschiedliche Sponsoren: Die RESCAVAT-Studie [Paywall] wurde von der spanischen Stiftung für Schlaganfall-Opfer ICTUS finanziert, die MR-CLEAN-Studie [Paywall] von der niederländischen Herzstiftung, die ESCAPE-Studie [Paywall] von der Universität Calgary in Kanada und die EXTEND-IA-Studie [Paywall] vom australischen Gesundheitssystem. „Obwohl es schon seit vielen Jahren möglich ist, Blutgerinnsel aus den Hirngefäßen mit einem Katheter zu entfernen, gelang erst durch diese Studien der eindeutige Nachweis, dass der Eingriff auch wirklich zum Vorteil der Patienten ist“, sagt Fiehler. „Moderne Katheter, schnelle Bildgebung und die richtige Auswahl von geeigneten Patienten haben in den Studien dafür gesorgt, dass große Gefäßverschlüsse nicht mehr automatisch mit einer schlechten Prognose verbunden sein müssen.“ Originalpublikation: Stent-Retriever Thrombectomy after Intravenous t-PA vs. t-PA Alone in Stroke [Paywall] Jeffrey L. Saver et al.; N Engl J Med., doi: 10.1056/NEJMoa1415061; 2015