Alexej Nawalny liegt im künstlichen Koma in der Charité. Er scheint mit einem Cholinesterase-Hemmer vergiftet worden zu sein. Ein Toxikologe wundert sich, dass die Diagnose nicht schon in Russland gestellt wurde.
Der russische Oppositionelle Alexej Nawalny (44) ist offenbar vergiftet worden. Ärzte der Berliner Charité haben ihn eingehend untersucht. Sie führen seine plötzliche Erkrankung auf „eine Substanz aus der Wirkstoffgruppe der Cholinesterase-Hemmer“ zurück, wie die Klinik mitteilte.
Die konkrete Substanz ist bislang nicht bekannt und es wurde eine weitere breitgefächerte Analytik initiiert. Die Wirkung des Giftstoffes, d.h. die Cholinesterase-Hemmung im Organismus, ist mehrfach und in unabhängigen Laboren nachgewiesen.
Entsprechend der Diagnose wird der Patient mit dem Gegenmittel Atropin behandelt. Die Klinik schreibt dazu: „Der Ausgang der Erkrankung bleibt unsicher und Spätfolgen, insbesondere im Bereich des Nervensystems, können zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden.“
Die Substanzen seien sehr gut nachweisbar, auch Tage und Wochen nach der Vergiftung, sagt Prof. Thomas Hartung von der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health in Balimore, USA. Er ist sich sicher: „Wir werden bald wissen, welche Substanz verwendet wurde.“
Die Stoffgruppe der Cholinesterase-Hemmer ist laut Hartung extrem gut bekannt. Alle Informationen dazu könne man leicht im Internet finden. Aus diesem Grund ist auch der forensische Toxikologe Thomas Daldrup überrascht, dass die Diagnose nicht schon in Russland gestellt wurde. Nawalny wurde zunächst in Omsk notbehandelt, bevor er am Wochenende nach Berlin eingeflogen wurde. „Ärzte sollten die Symptome kennen“, sagte Daldrup, der lange an der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität gelehrt hat.
„Klassische Symptome einer Vergiftung dieser Art sind extrem kleine Pupillen, Speichelfluss, Spasmen und Krämpfe, Lähmungen und Herzversagen“, ergänzt Hartung.
Daher wundert es den Toxikologen Daldrup, dass die russischen Ärzte keine Diagnose gestellt haben. Diese hatten nach eigenen Aussagen keine Spuren einer Vergiftung festgestellt. Auch Hinweise auf einen Cholinesterase-Hemmer habe man bei den Untersuchungen nicht feststellen können, hieß es Stunden nach der entsprechenden Mitteilung der Charité.
Bekannte und Freunde Nawalnys hatten zunächst den russischen Behörden und Ärzten vorgeworfen, sie würden den Fall verzögern. Dabei ging es auch um den Transport des Patienten. Am Freitagabend stimmten die russischen Ärzte schließlich einem Transport nach Deutschland zu.
Die Vorwürfe aus Nawalnys Kreisen wiesen sie zurück. „Wir haben den Patienten versorgt, und wir haben ihn gerettet. Es gab keinen Einfluss von außen auf die Behandlung des Patienten“, sagte gestern der Chefarzt der Klinik in Omsk, Alexander Murachowski.
Cholinesterase-Hemmer sind eine Gruppe chemischer Stoffe, die vielfältig Verwendung finden: Sie kommen unter anderem in Pestiziden zur Schädlingsbekämpfung zum Einsatz. „Das als Insektizid verwendete E-605 oder Parathion ist ein Cholinesterase-Hemmer“, sagte Daldrup. Es sei früher als Mord- und Suizidmittel verwendet worden, nicht nur in Deutschland. Aus seiner Sicht sollte das Gegenmittel Atropin auch heute noch in jedem Krankenhaus vorrätig gehalten werden.
„Interessanterweise gehören auch die Novichok-Nervenkampfstoffe zu dieser Wirkstoffgruppe“, ergänzt Prof. Hartung. Diese seien 2018 bei der Vergiftung des russischen Doppelagenten Skripal in England verwendet wurden. „Ich habe damals gesagt, die Russen hätten auch eine Visitenkarte am Tatort liegen lassen können, da die Substanzen so klar zugeordnet werden können.“
Daldrup geht davon aus, dass die verzögerte Diagnose im Fall Nawalny die Behandlung vermutlich erschwere: „Nun könnten die Nervenschäden und die Schäden des Gehirns schon sehr weit fortgeschritten sein.“ Vermutlich werde eine längere intensivmedizinische Behandlung notwenig sein.
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