Das Essbesteck zu halten, fällt schwer oder die Handschrift wird undeutlich – spinozerebelläre Ataxien sind erbliche Erkrankungen des Nervensystems. Erstmals wurde der Krankheitsursprung untersucht und wie sich die Symptome über Jahre entwickeln.
Der Begriff Ataxie – der sich vom griechischen Wort für Unordnung ableitet – beschreibt eine Reihe von Nervenerkrankungen, bei denen das Zusammenspiel verschiedener Muskelgruppen und infolgedessen die Bewegungskoordination beeinträchtigt ist. „Ataxien äußern sich durch motorische Störungen wie Gangunsicherheit und die Tendenz zu Stürzen. Die Handschrift wird undeutlich, das Greifen und Halten, beispielsweise von Essbesteck, fällt schwer. Auch kann die Sprache undeutlich und verwaschen werden“, erläutert Prof. Thomas Klockgether, Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Bonn und Direktor der Klinischen Forschung des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE).
Ataxien zählen zu den seltenen Erkrankungen und betreffen hierzulande Schätzungen zufolge rund 16.000 Menschen. Für die damit verbundenen Schäden an Kleinhirn und Rückenmark sind diverse Ursachen bekannt. Bislang ist es allerdings nur möglich, die Symptome zu lindern. „Viele Ataxien gehen auf Fehler im Erbgut zurück. Andere Formen der Ataxie sind erworben und können zum Beispiel durch Immunprozesse oder Vitaminmangel verursacht werden“, sagt Klockgether.
Generell entwickeln sich Ataxien langsam, über Jahre hinweg. Bei der Untergruppe der spinozerebellären Ataxien, die den erblich bedingten Ataxien angehören, treten markante Symptome in der Regel erst im Erwachsenenalter auf. „Während der präsymptomatischen Phase sind die Nervenschäden noch gering. Man geht davon aus, dass in diesem Zeitraum die Chancen am größten sind, den späteren Krankheitsverlauf zu beeinflussen und möglicherweise zu verlangsamen. Also präventiv vorzugehen“, so Klockgether. „Für die Therapie-Entwicklung ist neben einer besseren Früherkennung auch ein genaueres Verständnis des Krankheitsverlaufs erforderlich. So lassen sich Zeitfenster bestimmen, in denen eine Behandlung Aussicht auf Erfolg hat.“
Wichtige Erkenntnisse dazu liefert nun die bislang größte Untersuchung über den zeitlichen Beginn spinozerebellärer Ataxien. Die Daten wurden von einem von Klockgether koordinierten Forschungsverbund erhoben, der 14 wissenschaftliche Einrichtungen aus sieben europäischen Ländern (Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich, Polen, Spanien und Ungarn) umfasst. Insgesamt untersuchten die Forscher bei 252 Erwachsenen – allesamt Kinder oder Geschwister von Menschen mit spinozerebellärer Ataxie und daher Risikopersonen – wie sich deren Bewegungskoordination über einen mehrjährigen Zeitraum entwickelte. Die Studie, die bereits 2008 mit der Einwerbung von Probanden startete, deckt die vier häufigsten Varianten spinozerebellärer Ataxien ab: Diese werden nach internationaler Nomenklatur mit SCA1, SCA2, SCA3 und SCA6 bezeichnet.
Zu Studienbeginn zeigten alle Teilnehmenden keine Ataxie. Etwa die Hälfte davon waren allerdings Mutationsträger, sie hatten also ataxieauslösende Erbanlagen. Diese genetischen Befunde waren anonymisiert, um die Datenauswertung nicht zu beeinflussen. Rund die Hälfte der Mutationsträger entwickelte im Laufe des Studienzeitraums tatsächlich Krankheitssymptome. „Bei den übrigen Mutationsträgern ist dies auch noch zu erwarten. Wir werden die gesundheitliche Entwicklung aller Studienteilnehmer weiter verfolgen“, so Klockgether.
Die nun vorliegenden Ergebnisse liefern präzise Daten über den Verlauf von der präsymptomatischen Phase bis zum Auftreten von Krankheitssymptomen. „Unsere Studie zeigt, dass sich mit den etablierten Tests der Bewegungskoordination eine Ataxie tatsächlich erst dann erkennen lässt, wenn die Krankheit schon relativ weit fortgeschritten ist. Das wäre zu spät für eine frühe Behandlung. Es bedarf unbedingt zusätzlicher Biomarker, die schon vor dem Auftreten klinischer Symptome anschlagen“, sagt Dr. Heike Jacobi, Ärztin am Universitätsklinikum Heidelberg.
Ideal wären Messwerte, die sich aus einer einfachen Blutprobe ablesen lassen. Auch Hirnscans könnten möglicherweise wertvolle Indizien liefern, so Jacobi. „Einige unserer Studienteilnehmer wurden per Magnetresonanztomographie untersucht. Tendenziell sehen wir, dass bei einigen Ataxie-Formen bestimmte Hirnregionen bereits vor Beginn der Ataxie-Symptome schrumpfen. Da unsere Stichprobe an MRT-Untersuchungen relativ klein war, sollte man diesen Effekt aber anhand größerer Studiengruppen überprüfen.“ Für Präventionsstudien lieferten die aktuellen Ergebnisse aber schon jetzt wertvolle Informationen.
Zur vollständigen Pressemitteilung des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen geht es hier.
Die Studie findet ihr hier.
Bildquelle: Jukan Tateisi, Unsplash