Immer mehr Organe können durch Apparate ersetzt werden. Für uns Ärzte bedeutet das immer mehr Verantwortung. Wir müssen uns die Frage stellen: Sollte alles Machbare auch wirklich gemacht werden?
In der ZDF-Dokureihe 37 Grad war kürzlich ein Beitrag mit dem Titel „Mein Wille geschehe. Wie weit geht die moderne Medizin?“ zu sehen. Der Autor, Maximilian Damm, hat hierfür über Wochen drei Menschen begleitet, die täglich aktiv oder passiv mit schwerem Leid, moderner Medizin und entscheidenden ethischen Fragestellungen konfrontiert sind.
Der 65-jährige taz-Mitbegründer und Journalist Benedict Mülder erkrankte 2009 an einer Amyotrophen Lateralsklerose. Mittlerweile ist er komplett bewegungs- und reaktionslos. Er wird beatmet und lebt in der eigenen Wohnung inmitten seiner Familie.
Als er 2016 noch selbst kommunizieren konnte, hat er sich klar für das Leben entschieden – unter allen Umständen. Seine Frau trägt diese Entscheidung in bewundernswerter Weise mit, selbst wenn sie nicht weiß, ob er sich zum jetzigen Zeitpunkt noch genauso entscheiden würde.
Der Freiburger Intensivmediziner Dr. Johannes Kalbhenn muss täglich schwerwiegende Entscheidungen über das Leben anderer Menschen treffen. Nicht selten geht es dabei um Leben und Tod eines Patienten, der sich selbst nicht mehr klar äußern kann oder dement ist. Im Film nimmt man Teil an einem Gespräch, das er mit Angehörigen und dem behandelnden Hausarzt führt, um den mutmaßlichen Willen eines Patienten herauszufinden.
„Mit jedem Organ, das wir durch Apparate ersetzen können, wächst die Verantwortung. Ist es überhaupt sinnvoll, das zu tun?“, so Kalbhenn. Eine hundertprozentige Gewissheit, ob getroffene Entscheidungen im Sinne des Patienten sind, gibt es hier nicht.
Auch Damm haben die Dreharbeiten nachdenklich gemacht:
„Während der Dreharbeiten fand ständig eine Auseinandersetzung in mir statt – anfangs habe ich mich dabei erwischt, die Entscheidung Benedict Mülders zu bewerten. Mit der Zeit kam die Erkenntnis, dass nur der Betroffene selbst weiß, was für ihn richtig und was falsch ist. Ob Benedict Mülder heute immer noch so leben will, ist eine Ungewissheit, die man vielleicht einfach aushalten muss. Seinen Willen, den er geäußert hat, als er es noch konnte, muss man respektieren. In meiner Recherche traf ich auf Menschen, die sich bei voller Gesundheit gegen lebensverlängernde Maßnahmen ausgesprochen hatten und dann, als sie krank wurden, doch für das Leben entschieden haben – trotz großer Einschränkungen.“
In der Gynäkologie beginnen ethische Fragestellungen bereits vor Lebensbeginn. Planung und Realisierbarkeit des Kinderwunsches sind zunächst Fortschritte der modernen Medizin, die sich keiner mehr wegdenken möchte. Andererseits wirft der rasante Fortschritt in der Reproduktionsmedizin auch Fragen auf, inwiefern alles nun Machbare sinnvoll und ethisch vertretbar ist.
Die natürliche Verschiebung der Altersgrenze bei der Realisierung des Kinderwunsches durch das sogenannte Social Freezing wäre eine solche Frage. Was die Legalisierung der Eizellspende anbelangt, wird in Deutschland noch kontrovers diskutiert, in anderen Ländern – etwa Österreich – ist sie bereits möglich. Auch das Thema Leihmutterschaft ist in Deutschland weiterhin strittig und verboten, in einigen US-Staaten dagegen erlaubt.
Besonders vulnerabel ist der inzwischen große Bereich der Pränataldiagnostik. Für einige Familien sind vorgeburtliche Tests, die Aussagen über die Gesundheit ihres ungeborenen Kindes ermöglichen, eine wichtige Entscheidungshilfe, ob sie die Schwangerschaft weiter fortführen wollen. Der Medizinethiker Prof. Giovanni Maio spricht in diesem Zusammenhang von einer Schwangerschaft auf Probe. Zwar sei sinnvolle Pränataldiagnostik Bestandteil einer guten Frauenheilkunde und es gehe nicht darum, diese in pauschaler Weise zu kritisieren. Maio warnt aber vor einer Totalisierung des Machbarkeitsdenkens.
„Die Problematik entsteht aber dort, wo der Mensch angesichts der technischen Erfolge zu der Annahme verleitet wird, dass alles machbar sein sollte und man sich daher mit nichts mehr abzufinden bzw. anzufreunden hätte.“ Sicher eine enorme Gratwanderung, die jeder individuell für sich entscheiden muss. Deshalb ist es in der Schwangerenbetreuung wichtig, Patientinnen zunächst über alle gängigen Methoden der Pränataldiagnostik zu informieren.
Es gibt aber immer auch das Recht auf Nichtwissen, was zunehmend gesellschaftlich kontrovers gesehen wird. Andere Patientinnen möchten möglichst umfassend über die Gesundheit ihres ungeborenen Kindes informiert sein und wählen alle zur Verfügung stehenden Tests. Sehr verständlich ist, dass sich jeder Mensch ein gesundes Kind wünscht.
Im Weitblick betrachtet, stellt Elternschaft für viele Menschen eine lebenslange Sorge um das Wohlergehen ihres Kindes dar, die mit der Geburt keinesfalls endet. Nur wird der Handlungsspielraum natürlicherweise kleiner. Der Soziologe Hartmut Rosa spricht von der „Unverfügbarkeit“ des Lebens, eine Beschreibung dafür, dass entscheidende Dinge im Leben nicht machbar sind.
Der Philosoph Richard David Precht drückt es in seinem Bestseller „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“ so aus:
„Wenn heute und in Zukunft ausgewählt werden kann, was vorher der Zufall bestimmte, ergeben sich Folgeketten von unübersehbarem Ausmaß. Denn eine solcherart zugeschnittene Gesellschaft wird eine Eigenschaft verlieren, die bislang unweigerlich und unvermeidbar war: das Abfinden mit einer Lebenssituation!“
In der gynäkologischen Onkologie sind große Erfolge bezüglich Lebenserwartung und Lebensqualität erzielt worden. Neue Therapieoptionen ermöglichen ein längeres und komplikationsärmeres Leben trotz Karzinomerkrankung.
Dennoch entscheiden Patientinnen und ihre Angehörigen sich nicht immer für alles Machbare, wie etwa eine 84-jährige Patientin mit metastasierendem Mammakarzinom aus meiner Praxis. Momentan in gutem Allgemeinzustand, möchte sie die Zeit zu Hause mit der Familie verbringen und lehnt alle weitere Therapie ab. Klar und im Beisein der Angehörigen hat sie diesen verständlichen Wunsch geäußert.
Die moderne Medizin hat sehr viel Gutes erreicht, indem immer mehr Krankheiten diagnostiziert und adäquat therapiert werden können. In der Gynäkologie steht neben dem Lebensende besonders auch der Lebensanfang im Fokus ethischer Fragen. Ein striktes Schwarz-Weiß-Denken ist hier fehl am Platz und wie so oft in der Medizin ist ein individuelles, empathisches Vorgehen wichtig.
Damms Dokumentation über die Möglichkeiten, aber auch Grenzen moderner Medizin ist sehenswert und hat den Autor auch persönlich berührt:
„Jetzt, nachdem ich diesen Film gemacht habe, weiß ich nur eines sicher: Es gibt hier kein richtig oder falsch, kein schwarz und kein weiß. Was für den einen Patienten das Richtige ist, kann für den anderen völlig falsch sein. In diesem Bereich Antworten für sich selbst zu finden, ist schwer. Ich habe sie auch bis jetzt für mich nicht abschließend gefunden. Aber es ist wichtig, sich damit auseinanderzusetzen.“
Bildquelle: Mark Basarab, Unsplash