Erste Anzeichen von Chorea Huntington sind vielfältig: Patienten sind plötzlich vergesslich oder haben unerwartete Wutausbrüche. Nicht der Spezialist, sondern der Hausarzt ist oftmals erster Ansprechpartner. Eine neue Leitlinie soll ihnen helfen, die Symptome richtig zu behandeln.
Sie kommt schleichend, ist unausweichlich und endet tödlich: Wenn die Genmutation Huntington diagnostiziert wird, sterben Patienten innerhalb von zehn bis 25 Jahren an der Erkrankung, weil die Nervenzellen im Gehirn nach und nach zerstört werden. Die bestehende Leitlinie zur Huntington-Erkrankung wurde kürzlich aktualisiert und auf das höhere Niveau S2K angehoben. „Wir haben im Bereich der Huntington-Erkrankung zu wenige Studien, die jede Aussage hinreichend absichern würden, um eine S3-Leitlinie zu erarbeiten“, erklärt Carsten Saft, Oberarzt am Huntington-Zentrum NRW der Ruhr-Universität Bochum. Kausal behandeln lässt sich die Huntington-Erkrankung bis heute nicht, aber viele Beschwerden können durch eine symptomatische Therapie gelindert werden. „Ich freue mich, dass wir mit der neuen Leitlinie jetzt auch Hausärzte und Allgemeinmediziner erreichen“, sagt Saft. „Viele Familien sind bei Hausärzten angebunden, und mit der Leitlinie versuchen wir, für verschiedene Beschwerden der Huntington-Erkrankung Tipps zur Behandlung zu geben.“
Die neue Leitlinie empfiehlt Medikamente, die man bei vermehrter Reizbarkeit verschreiben könne oder welche Arzneimittel bei Hyperkinesien einzusetzen sind, je nachdem, wie stark der Bewegungsdrang der Betroffenen sei, so der Neurologe. „Neben der medikamentösen Therapie sind auch Krankengymnastik, Beschäftigungstherapie sowie Sprechtraining wichtig. Da die Symptome bei den verschiedenen Patienten unterschiedlich sein können, muss die Therapie individuell angepasst werden“, heißt es bei der Deutsche Huntington Hilfe e.V. Saft sagt, als Arzt müssen man den ganzen Patienten mit der Gesamtheit der Beschwerden im Auge behalten: „Manchmal kann die Behandlung der einen Beschwerde eine andere verschlechtern. Man kann zum Beispiel bei Reizbarkeit oder psychotischen Symptomen mit Neuroleptika behandeln und so unter Umständen auch die Motorik verbessern, man kann sie aber auch verschlechtern.“ Es sei manchmal eine Frage der Dosis dieser Medikamente, so der Neurologe: „Diese Dinge muss man im Hinterkopf behalten und aufmerksam beobachten.“ Es sei zwar wünschenswert und empfohlen, dass bei der Behandlung der Huntington-Erkrankung ein Spezialist involviert sei. „Doch im Alltag ist der Hausarzt der erste Ansprechpartner in Heimen oder auch in anderen Fällen. Darum sind die Leitlinien für viele Hausärzte, von denen ich auch oft Anrufe bekomme, hilfreich“, sagt Saft. Carsten Saft ist langjähriger Spezialist für die tückische Huntington-Krankheit.
Die Erkrankung kann in jedem Lebensalter ausbrechen, häufig aber um das 40. bis 50. Lebensjahr herum. Plötzlich vergessen die Menschen Dinge oder Ereignisse, sie leiden unter depressiven Verstimmungen oder brechen unerwartet in Wut aus, andere sind ängstlich. Bei fortschreitender Erkrankung werden Betroffene dement, es treten Sprach- und Schluckstörungen auf, die Muskeln versteifen sich. Erst 1993 wurde die eigentliche Ursache für die Erkrankung entdeckt: Durch eine Genmutation, die auch vererbt werden kann, wird das Eiweiß Huntingtin verändert. Auf einem Abschnitt des Eiweißes, auf dem die Aminosäure Glutamin in der Folge überdurchschnittlich häufig auftritt, wirkt die Mutation schädlich auf Nervenzellen und lässt nach und nach immer mehr von ihnen absterben. In Westeuropa und Nordamerika sind ungefähr sieben von 100.000 Menschen von der Huntington-Krankheit betroffen, in Deutschland insgesamt rund 8.000. Durch umfangreiche neurologische und psychiatrische sowie gegebenenfalls molekulargenetische Untersuchungen kann es heute sicher diagnostiziert werden.
„Die Diagnose selbst ist relativ einfach und präzise, wenn eine Huntington-Erkrankung in der Familie bekannt ist. Die Wahrscheinlichkeit, die Mutation geerbt zu haben, beträgt 50 Prozent. Sollten Beschwerden auftreten, kann eine genetische Sicherung der Diagnose erfolgen, sofern sie vom Patienten gewünscht ist“, sagt Experte Saft. Schwieriger kann die Differentialdiagnose bei fehlender Familienanamnese sein. Wichtig sei, dass man die Differentialdiagnose von der vorhersagenden, prädiktiven Testung abgrenze. Wer ein Risiko, aber keine Beschwerden habe, müsse wohl überlegen, ob er untersucht werden möchte oder nicht, sagt Saft: „Das Wissen kann eine enorme psychische Belastung sein. Da sollte man zu einem Humangenetiker Kontakt aufnehmen und diese Frage in der humangenetischen Beratung entscheiden.“ Zwischen einem ersten Beratungsgespräch und der Blutabnahme sollte dabei nach internationalen Richtlinien eine Bedenkzeit von mindestens vier Wochen liegen, so der Neurologe: „Diese Frist ist empfohlen. Es gibt den Menschen die Möglichkeit, den Befund doch nicht wissen zu wollen.“
Im Dezember 2017 sorgten erste Ergebnisse einer Antisense-Studie für Aufsehen. „Sie wurde bisher nicht wissenschaftlich publiziert, aber auf einem ersten Kongress vorgestellt“, sagt Saft. Eine Pressemitteilung der Firma Ionis habe einen Sturm des Interesses ausgelöst: „Die Medien berichteten euphorisch, bei mir liefen die Telefone heiß.“ Tatsächlich seien ein paar erste Hinweise gefunden worden, dass es gelungen sei, mit dem experimentellen Mittel Ionis-HTTRx die Produktion des Proteins Huntingtin zu reduzieren, sagt der Neurologe: „Bei dieser Phase1/2a-Studie sind nur 46 Patienten untersucht worden. Das schränkt die Aussagekraft der Ergebnisse ein.“ Die Hoffnung sei nun, sobald wie möglich dieses Präparat in den Phasen 2 und 3 testen zu können. Dazu sei es wichtig, dass sich Erkrankte bei den Huntington-Zentren meldeten. Zur Information empfiehlt Saft ein Blick auf die globale Verlaufsbeobachtungsstudie Enroll-HD, an an der auch Familienangehörige teilnehmen können: Hier können Erkrankte, Mutationsträger, aber auch Personen teilnehmen, die nicht auf die Genmutation untersucht worden sind. „Sollte es eines Tages tatsächlich ein Medikament zur Behandlung geben, dann wäre natürlich die nächste Frage, zu welchem Zeitpunkt man damit anfängt“, sagt Saft. „Sehr wahrscheinlich wäre die Antwort, so früh als möglich, vielleicht sogar schon vor dem Ausbruch der Krankheit, um diesen zu verzögern. Das wäre die Zukunftsvision.“