Die Pharmaindustrie ist produktiver denn je, berichtet Thomson Reuters in einer aktuellen Untersuchung. Während manche Analysten vom „Zeitalter der Knappheit“ sprechen, zeigen Zahlen ganz andere Tendenzen. Der Preis: exorbitant hohe Entwicklungskosten.
Von wegen Zeitenwende: Beobachter der pharmazeutischen Szene bewerten die Jahre vor 2005 als „Ära des Überflusses“, gefolgt vom „Zeitalter der Knappheit“. Thomson Reuters, ein internationaler Medienkonzern, der auch Finanz- und Wirtschaftsdaten bewertet, teilt diese Auffassung nicht. Im kürzlich veröffentlichten „CMR International Pharmaceutical R&D Factbook“ zeigen Forscher gänzlich unterschiedliche Trends auf.
Dazu einige Zahlen: In 2014 erteilte die US Food and Drug Administration 41 neue Zulassungen gemäß Biologics License Application (BLA) beziehungsweise New Drug Application (NDA). Zum Vergleich: Zuvor gab es für 30 (2011), 39 (2012) und 27 (2013) Arzneistoffe grünes Licht. Die Pharmaka selbst richten sich gegen unterschiedliche Krebsformen, gegen Hepatitis C und Augenleiden, aber auch gegen seltene Erkrankungen. Bemerkenswert: Zum ersten Mal erreichten Umsätze global die Marke von einer Billion US-Dollar. Bis 2018 erwarten Experten weitere Steigerungen auf 1,3 Billionen Dollar. Dabei unterscheiden sich einzelne Märkte grundlegend. Dapagliflozin wurde beispielsweise schon 2012 in Großbritannien als Forxiga™ zugelassen, aber erst in 2014 in den USA als Farxiga®. Und Naloxegol (Movantik®) bekam von der FDA schon Ende 2014 grünes Licht. Bis März 2015, dem Redaktionsschluss der Erhebung von Thomson Reuters, war das Präparat noch nicht auf amerikanischen und europäischen Märkten zu finden.
Viele Arzneistoffe kommen gar nicht so weit. Von allen Präparaten, bei denen Forscher erste Toxizitätstests durchführen, erreichen nur fünf Prozent den Markt. Vom ersten Test am Probanden bis zum Markt haben sieben Prozent Erfolg, und vom ersten Test am Patienten bis zum Markt sind es 17 Prozent. Schaffen es Wirkstoffe in entscheidende Zulassungsstudien, schaffen es bereits 65 Prozent über die Ziellinie, und im Zulassungsverfahren sogar 91 Prozent. Aus Sicht forschender Hersteller ist der schnelle Ausstieg deutlich preisgünstiger – sprich viele Kandidaten werden bereits früher als zuvor ausgesiebt.
Trotz entsprechender Strategien explodieren die Kosten: Laut Pharmaceutical Research and Manufacturers of America (PhRMA), einem Verband forschender Hersteller, steckten Mitgliedsunternehmen 51,2 Milliarden Euro in F&E (2014). Seit dem Jahr 2000 summieren sich alle Investitionen auf mehr als 600 Milliarden US-Dollar. Pro Wirkstoff liegen die Kosten bei mehr als 2,6 Milliarden Euro. Zwischen 1990 und 2000 mussten Hersteller mit einer halben Milliarde Dollar rechnen – davor mit deutlich niedrigeren Summen. Dem Verband zufolge gelangen heute nur zwölf Prozent aller Kandidaten in klinische Studien. Weitere Details kommen vom Informationsdienst „Genetic Engineering & Biotechnology News (GEN)“: Speziell im Bereich der Biopharmazie griffen die Top-25-Unternehmen tief in ihre Tasche – und gaben mehr als 100 Milliarden Euro für F&E aus (2014). An der Spitze standen Roche (10,4 Milliarden US-Dollar; plus 6,7 Prozent), Novartis (9,1 Milliarden US-Dollar; plus 0,2 Prozent), Johnson & Johnson (8,5 Milliarden US-Dollar; plus 3,8 Prozent), Pfizer (8,4 Milliarden US-Dollar; plus 25,7 Prozent) und Merck & Co. (7,2 Milliarden US-Dollar; plus 4,3 Prozent) – jeweils verglichen mit 2013. GEN sieht diese Konzerne schwerpunktmäßig im Bereich Biotechnologie, während „Big Pharma“ mit klassischen Methoden weniger Investitionsbereitschaft an den Tag legte.
Analysten sprechen von unterschiedlichen Gründen, warum Biotech-Konzernen viel Geld zur Verfügung steht. Einen kleinsten gemeinsamen Nenner gibt es dennoch: Erfolgreiche Präparate, die sich 2014 auf internationalen Märkten behauptet haben. An der Spitze steht Humira® (Adalimumab) von AbbVie mit einem Umsatz von 12,5 Milliarden US-Dollar. Dahinter folgt mit geringem Abstand Sovaldi® (Sofosbuvir) von Gilead Sciences mit 10,2 Milliarden US-Dollar Umsatz. Auf dem dritten Platz des Siegertreppchens befinden sich Remicade® (Infliximab) von Johnson & Johnson beziehungsweise Merck & Co. Hier ist von 9,2 Milliarden US-Dollar die Rede. Rituxan® (Rituximab; Roche / Genentech, Biogen) und Enbrel® (Etanercept; Amgen, Pfizer) kamen auf 8,7 beziehungsweise 8,5 Milliarden US-Dollar. Angesichts dieser Zahlen knallten bei Vorständen und Aktionären die Korken.
Des einen Freud, des anderen Leid: Hochpreisige Innovationen belasten Gesundheitssysteme weltweit über alle Maßen. In Deutschland diskutieren Politiker ohne erkennbaren Fortschritt, ob Änderungen beim umstrittenen AMNOG erforderlich sind. Bis zur frühen Nutzenbewertung bieten neue, innovative Pharmaka immer noch die Lizenz, Geld zu drucken. Großbritanniens Gesundheitsstaatssekretär Jeremy Hunt sorgte mit einem ungewöhnlichen Konzept für Schlagzeilen. Er will Arzneimitteln, die mehr als 20 Pfund (knapp 28 Euro) kosten und vom staatlichen National Health Service übernommen werden, Preise aufdrucken lassen. Gleichzeitig soll als Text „funded by the UK taxpayer“ („vom britischen Steuerzahler finanziert“) erscheinen: Tatsächlich ein Weg, um die Adhärenz zu erhöhen? Das erscheint wenig sinnvoll – durch nicht eingenommene, preisgünstige Antihypertensiva entsteht beispielsweise ein deutlich größerer Schaden.