Deutschlands Bevölkerung altert – und maligne Erkrankungen werden zur Geißel der Babyboomer. SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach warnt vor Scheininnovationen und übertriebenen Preisvorstellungen. Er sieht öffentliche Gelder versickern – guter Rat ist teuer.
Krebs – die neue Seuche? Das behauptet zumindest Professor Dr. Karl Lauterbach (SPD). Einige Thesen aus seinem neuen Buch, die er vorab im „Spiegel“ veröffentlicht hat, sorgen für reichlich Gesprächsstoff. Lauterbachs Ausgangspunkt: Nach Herz-Kreislauf-Leiden steht Krebs an zweiter Stelle der Todesursachenstatistik. Doch die Industrie schläft nicht. In den letzten Jahren haben Konzerne neben altbekannten, wenig selektiven Zytostatika hochspezifische Arzneistoffe auf den Markt gebracht, etwa monoklonale Antikörper oder Tyrosinkinase-Inhibitoren. Karl Lauterbach macht Herstellern gleich mehrere Vorwürfe. Unser Faktencheck:
Der erste Vorwurf bezieht sich auf die hohen Kosten für moderne onkologische Therapien. Der Wirkstoff Rituximab zur Behandlung von Non-Hodgkin-Lymphomen sowie bei chronisch lymphatischer Leukämie ist hier nur ein Beispiel. Laut roter Liste kosten 1.400 mg Lösung zur subkutanen Injektion 2.844,34 Euro – für eine Behandlung. Moderne Präparate schlagen nicht selten mit 50.000 bis 150.000 Euro pro Jahr zu Buche. Lauterbach spricht von „Financial Toxicity“ neuer Therapien und vermutet Mehrkosten von bis zu 45 Milliarden Euro. Birgit Fischer, der Hauptgeschäftsführerin des vfa zufolge, gäbe es aktuell „keine Kostenexplosion bei Krebsmedikamenten“. Zwischen 2011 und 2014 haben gesetzliche Krankenkassen 3,5 bis 3,9 Milliarden Euro für Onkologika im ambulanten Bereich ausgegeben. Die mittlere jährliche Steigerungsrate liegt derzeit bei 4,3 Prozent. Das klingt zunächst nach nicht viel - sind jedoch in absoluten Zahlen mehr als 100 Millionen Euro zusätzliche Kosten pro Jahr für die Versichertengemeinschaft. Gegen den Vorwurf Lauterbachs, die innovativen Krebsmedikamente seien überteuert und überlasteten das Gesundheitssystem, wehrt sich Norbert Gerbsch vom Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI): „Dies sind Investitionen in die weitere Verlängerung der Lebenserwartung und die Verbesserung der Lebensqualität.“
Lauterbach widerspricht dieser These. Er schreibt, moderne Wirkstoffe verlängerten das Leben um nur wenige Wochen oder Monate. Außerdem würden unrealistische Hoffnungen geweckt. In der Praxis zeigen sich unterschiedliche Tendenzen. Unabhängig vom Wirkstoff profitieren Menschen mit unheilbarer Krebserkrankung nicht von der maximal möglichen Therapie – das zeigen mehrere Arbeiten. Der „Coping with Cancer“-Studie zufolge kam es in palliativen Behandlungsgruppen häufiger zu Klinikeinweisungen, und Menschen starben seltener zu Hause. Selbst bei Krebspatienten mit gutem Allgemeinzustand verschlechtert sich die Lebensqualität [Paywall]. Häufig ist Betroffenen auch nicht bewusst, was es mit palliativen Therapiekonzepten auf sich hat. Sie kämpfen, anstatt letzte Dinge des Lebens zu ordnen. Der andere Teil der Wahrheit: Statistischen Angaben zufolge erkranken heute etwa doppelt so viele Menschen an Krebs wie noch im Jahr 1980; die Zahl an Todesfällen ist aber zahlenmäßig gleich geblieben. Häufig gelingt es Onkologen, Patienten mit einer Leukämie, einem Mammakarzinom, einem Prostatakarzinom oder einem Kolonkarzinom zu heilen. Impfungen gegen Hepatitis B oder gegen das humane Papillomvirus gelten als wirksame Prophylaxe. Entsprechende Therapien seien nur mit hohen Investitionen möglich, argumentieren Industrievertreter.
Dazu einige Details auf internationaler Ebene: Wie Pharmaceutical Research and Manufacturers of America (PhRMA), ein Verband forschender Hersteller, berichtet, steckten Mitgliedsunternehmen letztes Jahr 51,2 Milliarden Euro in F&E. Alle Top-25-Unternehmen der Biotechnologie gaben im gleichen Zeitraum mehr als 100 Milliarden Euro aus. Die Angaben stammen einzig und allein von Interessenvertretungen – und lassen sich en détail kaum nachprüfen. Im gleichen Atemzug ersetzen Konzerne wissenschaftliche Misserfolge oder fehlende Investitionen durch Zukäufe. Einige der umsatzstärksten Präparate kommen aus der Harvard Medical School sowie der University of California in Berkeley. Beispiele gibt es auch hier zu Lande: Die Entwicklung von HPV-Impfstoffen geht letztlich auf Arbeiten Harald zur Hausens zurück – finanziert aus öffentlichen Mitteln. „Häufig liefert die Grundlagenforschung neue Ansatzpunkte zur Behandlung, aber erst die Pharmaindustrie macht daraus einsatzfähige Medikamente und trägt dabei den weitaus größten Teil der Kosten“, sagt Dr. Norbert Gerbsch. Eine unumstößliche Maxime? Start-ups oder Hochschulen haben weder Budgets noch Kompetenzen, um selbst klinische Studien durchzuführen. Eine Alternative: Das klinische Forschungszentrum Hannover unterstützt Forschungseinrichtungen bei entsprechenden Tests – ein wichtiger Schritt, aber kein Durchbruch.
Jetzt sind Alternativen gefragt. Von der Regierung erwartet niemand großartige Impulse. Lauterbach selbst spricht vom „eher zähen“ Pharma-Dialog. Neue Krebsmedikamente kommen kaum zur Sprache. Am Ende geht es eben nicht nur darum, „was ist der Gesellschaft medizinischer Fortschritt wert?“ (Fischer). Innovationen müssen bezahlbar bleiben und vor allem den richtigen Patienten zugutekommen. Das spricht für bessere Daten, auch nach Markteinführung neuer Wirkstoffe. Als Idee steht im Raum, nicht nur Zulassungen über die europäische Arzneimittelagentur EMA abzuwickeln. Eine zentrale Behörde könnte auch für alle Länder Europas individuelle Erstattungspreise aushandeln und großen Konzernen besser Paroli bieten - so zumindest die Theorie.